Schlimmer geht immer – Mit der Ampelkoalition in die vierte Welle

„Deutschland erlebt mit dem zweiten Corona-Winter gar kein Déjà-vu. Deutschland erlebt jetzt ein noch gar nicht gekanntes Desaster“, kommentiert der Kölner Stadt-Anzeiger[1]. Die Grenze von 100.000 Corona-Toten ist inzwischen überschritten. Die Intensivstationen sind überlastet. Das Schreckgespenst der Triage steht vor der Tür. Alles war vorhersehbar und von WissenschaftlerInnen prognostiziert. Statt die Situation zur Kenntnis zu nehmen, wurde in der Politik von ‚Normalität‘ und ‚Freiheit‘ und voreilig-verharmlosend von der ‚Pandemie der Ungeimpften‘ schwadroniert. Dabei wurde versäumt die Vorkehrungen zu treffen, um die vierte Welle und ihre Toten zu verhindern. Den Vogel schoss dabei die offensichtlich von der FDP geführte neue  Ampelkoalition ab. Just zu dem Zeitpunkt, an dem die Lage vollends aus dem Ruder lief, ließ sie im Deutschen Bundestag die epidemische Notlage von nationaler Tragweite für beendet erklären und das Infektionsschutzgesetz ändern. In der Tat, das war neu und ein befeuernder Beitrag zu einem bisher „noch gar nicht gekannten Desaster“.

In dem neuen Gesetz der Ampelkoalition ist die Liste der dann nicht mehr möglichen Einschränkungen lang: Keine Ausgangs- und Kontakteinschränkungen, keine Untersagung und Beschränkung von Reisen, des Kulturbetriebs und gastronomischer Einrichtungen, keine Schließung und Beschränkung von Betrieben, Universitäten, Schulen, Kitas… Das Management der Pandemie wird vor allem auf die Länderebene verlagert. Dafür bleibt ihnen jedoch nach dem 15. Dezember nur noch ein ausgedünnter Katalog von Maßnahmen.

Um Rechtssicherheit soll es dabei gegangen sein. Das ist zu bezweifeln; denn die stand gar nicht in Frage. Gerichte haben gelegentlich dann Anordnungen von Verwaltungen kassiert, wenn ihnen die Anwendung der Rechtsgrundlagen als unverhältnismäßig erschienen. „Das Argument der Rechtssicherheit ist also offensichtlich falsch, zumal auch die sonstige Rechtsprechung ganz überwiegend nicht zu erkennen gibt, dass die maßgeblichen Grundlagen  in Frage gestellt werden“[2].  Im Kern kamen die liberalen Freiheitsparolen zum Zug. Tote hin oder her, es geht darum, möglichst  schnell zur kapitalistischen Normalität zurück zu kehren, die eingeschränkte Produktion wieder mit ungehindertem Konsum zu verbinden, Reisen und Unterhaltung, Event und Erlebnis wieder möglich zu machen… Diese intellektuell einfältige und individualistische Freiheits-Ideologie hat ihren Preis. Ganz in der Logik der sozialdarwinistischen Geschichte des Liberalismus wird er von denjenigen gezahlt, die beim Kampf ums Dasein die schlechteren Karten haben. Es geht also um:

Freiheit zum Sozialdarwinismus

In der neoliberal zugerichteten Gesellschaft, in der die Individuen eigenverantwortlich ihre Selbstoptimierung zu betreiben haben, um in aller Freiheit für den Kampf ums Dasein gerüstet zu sein, stößt eine sozialdarwinistisch konnotierte Freiheit auf hohe Plausibilität. Den Preis dieser Freiheit zahlen angesichts von Corona alle, die durch eine Impfung nicht geschützt werden können. Gegenwärtig steigt die Zahl der Infektionen unter Kindern und Jugendlichen besonders rasant.   Statt diese Gruppen z.B. in Kitas und Schulen und Universitäten durch Luftfilter, Maskengebot, vermehrte Testungen zu schützen und dabei zugleich die Ausbreitung des Virus zu reduzieren, werden sie der Durchseuchung ausgesetzt. Gleichzeitig wird das Instrument genereller Schließung von Bildungseinrichtungen entsorgt. Den Preis solcher Freiheit könnten Kinder und Jugendliche zahlen, die ohne hinreichenden Schutz in den ‚systemrelevanten‘ Kitas und Schulen zwecks elterlicher ‚Freiheit‘ zur Arbeit ‚verwahrt‘ und auf ihre Verwertbarkeit vorbereitet werden. Und ‚Alte‘ zahlen den Preis bereits jetzt schon wieder, indem sie – nach Auslaufen ihres Impfschutzes – wieder vermehrt auf Intensivstationen landen und sterben.

Primat der politischen Diffusion

Das Einbrechen der kapitalistischen Halterungen in Polaritäten wie Ökonomie und Politik, Subjekt und Objekt wird durch die Corona-Krise noch einmal beschleunigt. Das wirre Hin und Her zwischen den Polaritäten geht immer schneller und quer durch die Maßnahmenpakete hindurch. Einen kurzfristigen Vorteil witterten Politiker in der Liaison von Freiheit fordernden Quer-, liberal- und manch links Denkenden. Dabei konnte die Kritik von WissenschaftlicherInnen ebenso ignoriert werden wie diejenige von vermeintlichen Panikmachern und Moralisierern. Mittlerweile scheint es längerfristig denkenden Wirtschaftlern zu dämmern, dass die Wirtschaft erst wieder in Gang kommen könnte, wenn es gelingt, das Virus zu bändigen. Dann stände die Politik mal wieder vor die Situation, erneut die Pferde, sprich die Polaritäten, zu wechseln, und die Corona-Zügel anzuziehen. Selbst dieses Wechseln der Polaritäten stößt auf Grenzen. Nicht nur die Zeitabstände, in denen es zu wirrem Hin und Her kommt, werden kleiner. Es mehren sich auch die Anzeichen dafür, dass die Wirrnis quer durch die agierenden Personen läuft.

In der politischen Diffusion wird ein eklatanter Realitätsverlust sichtbar. Er ist Ausdruck des nicht zuletzt dem Krisenverlauf geschuldeten Objektverlustes der Politik. Sie wird immer weniger ihrem Gegenstand gerecht und verliert sich in den eigenen Inszenierungen. Diese sind auf Aufmerksamkeit und Zustimmung aus. Geht die Inszenierung daneben, ist das Problem nicht ein Irrtum in der Sache, sondern eine fehlerhafte Kommunikation.

Politischer Liberalismus als ‚letzter Schrei‘?

In dieser diffusen Situation scheint gegenwärtig der politische Liberalismus in der ganzen Hohlheit seiner Freiheitsphraseologie der letzter Rettungsanker des politischen Personals zu sein. Es ist kein Zufall, dass in der gegenwärtigen Krise der politische Liberalismus – gegenwärtig in einer unheimlichen Geistesverwandtschaft von AFD, FDP und Grünen samt sozialdemokratischem wie zuvor christdemokratischem Kuschen davor – politisch zum Zug kommt. Seinen originären Ort hat er in der Etablierung des Kapitalismus. Seine Aufgabe war es, einer kapitalistischen Gesellschaft den Weg zu bahnen, den Erfolgreichen Freiheit zu versprechen und die Leichen unsichtbar zu machen oder als Preis des Fortschritts zu rechtfertigen. Auf eine kurze westliche Phase eines sozial temperierten Kapitalismus folgte mit der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus – als einer Krise der Verwertung von Arbeit – der neoliberale Kapitalismus. Er propagiert die Wende von sozialer Verantwortung zu Eigenverantwortung samt Verpflichtung zur Selbstoptimierung. Diese Propaganda ist die Begleitmusik zu immer schärferer Anpassung an die vom Kapital diktierten und in der Krise enger werdenden Verwertungsbedingungen und die damit einhergehenden Zerstörungen in sozialen und ökologischen Bereichen. Wer in der sich zuspitzenden Konkurrenz nicht an sich zuerst oder allein denkt, droht aus dem Rennen geworfen, sprich sozialdarwinistisch selektiert zu werden… Der Liberalismus verspricht Freiheit durch Unterwerfung unter die Zwänge kapitalistischer Verhältnisse für diejenigen, die es schaffen, darin erfolgreich zu sein, die Nicht-Verwertbaren und daher Überflüssigen werden selektiert.

 Wo von Freiheit die Rede ist, ist die Rede vom Recht nicht weit. Gleichheit vor dem Gesetz und Rechtssicherheit ist hier das Versprechen. Aber auch dem Recht fehlt das Objekt. Es gilt als formales Recht unabhängig von seinem inhaltlichen Objekt. Die Ampelkoalition rühmt sich, mit dem Ende der epidemischen Notlage und dem neuen Infektionsschutzgesetz die Maßnahmen gegen das Corona-Virus ‚rechtssicher‘ zu machen. Herzlichen Glückwunsch, nun kann sich das Virus ‚rechtssicher‘ ausbreiten, Menschen können ‚rechtssicher‘ schwer erkranken und auf den Intensivstationen ‚rechtssicher‘ sterben.

Die gegenwärtige liberale Strategie wirkt wie eine Flucht nach vorne nach dem Motto: Wenn es kein Mittel gegen Barbarisierung gibt, dann machen wir sie wenigstens selbst. Erfahrungsvorräte aus der Geschichte des Liberalismus gibt es ja genug … Zwischen Liberalismus und autoritären Kriseninterventionen hin und her gerissen droht die Krise weiter ihren katastrophischen Gang sozialdarwinistischer Verwilderung zu gehen.

Angesichts der diversen miteinander über Wert und Abspaltung verbundenen Krisen wird es jedoch nicht einmal für die beim Kampf ums Dasein Starken Perspektiven geglückten Lebens mehr geben können. Auch werden weitere Pandemien ‚ausbrechen‘. Das garantiert nicht zuletzt der Umgang mit Tieren und ihren Weidegründen im Zusammenhang industrialisierter Landwirtschaft einhergehend mit dem ungestillten Fleischhunger im Rahmen der kapitalistischen Normalität und ihrer Wachstumszwänge. Dabei ist von der Vertreibung von Menschen von ihrem Land, das zur Fleischproduktion in Wert gesetzt wird, der Rodung von Wäldern, von Monokulturen für Viehfutter, von Verseuchung der Böden und Klimawandel noch nicht einmal die Rede. Hier wird die Frage nach dem Handeln komplizierter, weil sie mit der Frage einhergehen muss, wie es zu einem kategorialen Bruch mit den Fetischverhältnissen kommen kann. Wenn aber solidarisches Handeln bereits an einer banalen und leicht handhabbaren Frage wie der des Maskentragens etc. zu scheitern droht, die Politik – vor sich her getrieben von der Lautstärke der ‚Lockerer‘ und dem Krawall von Querdenkern und Verschwörungswahnsinnigen – wirr und kopflos agiert, wächst die Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll, ähnlich den Infektionszahlen exponentiell. Und es braucht kaum Phantasie, um sich auszumalen, wie Kämpfe aussehen, wenn die finale Krise des Kapitalismus und deren Erscheinungen den kapitalistischen Normalgesellschaften des globalen Nordens noch näher ‚auf die Pelle‘ rückt…

Geschäftsführender Vorstand und Geschäftsführung des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar: Barbara Bernhof-Bentley, Herbert Böttcher, Dominic Kloos und Brigitte Weber

 

[1] Kölner Stadt-Anzeiger vom 23.11.21.

[2] Ebd.