In diesem Impuls soll es um das Subjekt des Kapitalismus bzw. die sozialpsychische Verfasstheit des bürgerlichen Subjekts gehen. Das postmodernen Subjekt ist dabei v.a. ein Krisensubjekt, das einem Prozess unterliegt, in dem die Grundlagen bürgerlicher Subjektivität unentwegt ausgehöhlt werden. Das Subjekt versteht sich als freies und autonomes, d.h. ein aufgrund seines freien Willens handlungsfähiges Subjekt. Grundlage dafür, also auch für sein Selbstbewusstsein, ist die Arbeit. Die aber bricht in der Krise ein. Damit schwindet nicht nur die Grundlage für die Akkumulation des Kapitals als irrationalem Selbstzweck der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung, sondern auch die Grundlage für Freiheit und Autonomie des Subjekts. Vereinfacht ausgedrückt: Es geht um das Arbeitssubjekt, dem die Arbeit ausgeht.
Dies muss verarbeitet werden. Die Art dieser Verarbeitung ist trotz aller individueller Unterschiede nicht einfach frei wählbar, insofern dieser Prozess maßgeblich durch die ’sozialpsychische Matrix‘ des kapitalistischen Subjekts strukturiert ist. Diese ist im Kontext der Durchsetzungsgeschichte der Wert-Abspaltungsgesellschaft entstanden. Die Rede von der Wert-Abspaltungsgesellschaft reflektiert dabei auf einen Formzusammenhang, in dem Wert und Abspaltung bzw. Produktion und Reproduktion als Gleichursprüngliche in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen und somit die Dynamik des Kapitalismus maßgeblich prägen. Der Wert ist dabei der ‚männlichen‘ Sphäre zugerechnet, während die als ‚weiblich‘ konnotierten Bereiche abgewertet und verleugnet werden. Und gerade dieses Verhältnis spiegelt sich in der sozialpsychischen Matrix des bürgerlichen Subjekts wieder, wie ich zu zeigen versuchen werde.
Wie gesagt ist das postmoderne Subjekt v.a. ein Krisensubjekt und seit den 1970er Jahren zeigt sich nun ein Krisenprozess, der die Frage nach einer „absolute[n] innere[n] Schranke des Kapitals“ (Kurz 2006, Marx lesen: 280) aufwirft. Auf diese Zusammenhänge ist von Seiten der Wert-Abspaltungskritik vielfach hingewiesen worden. Ich kann hier nicht auf alle Entwicklungen seit den 1970er Jahre eingehen. Ein paar Stichworte müssen genügen.
Vermittelt über die allgemeinen Krisenprozesse kam es zu einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft begleitet von einem Sozialabbau und einer Prekarisierung der Arbeitswelt (vorläufiger Höhepunkt: Hartz IV). Gleichzeitig hat sich vermittelt über diese Individualisierungsprozesse und die Erosion der Arbeitswelt auch die Familie als Kerninstanz von Sozialisation stark verändert und zersetzt sich zusehends. Obwohl es also real immer schwerer geworden ist, innerhalb der kapitalistischen Normalität einen halbwegs sicheren Ort zu finden, wird das Scheitern individualisiert: jeder ist seines Glückes Schmied. Auch ein Blick in die Welt beruhigt dabei wenig: Flüchtlingsbewegungen, bürgerkriegsähnliche Zustände an vielen Orten der Welt, sich zersetzende Demokratien, die unzählbaren Brandherde auf der Welt, nicht zuletzt aktuell in Nahost.
Auf pathologischer Ebene ist es vor diesem Hintergrund längst zu einer Verschiebung weg von neurotischen hin zu depressiven, narzisstischen Krankheitsbildern gekommen. Die Überforderungen, die mit den auf Schuld und Disziplin beruhenden Verhaltensnormen einhergingen, brachen sich in der Neurose als Ausdruck eines zugrundeliegenden Konflikts zwischen Begehren und Verdrängung Bahn. Die Depression hingegen ist nicht durch einen Konflikt gekennzeichnet, sondern Ausdruck einer (narzisstischen) Unfähigkeit mit der Welt der Objekte in Kontakt zu treten. Die Depression kann insofern als Ausdruck einer Leere verstanden werden, die die Kehrseite der dauerhaften Überforderung ist, an sich selbst arbeiten und sich optimieren zu müssen.
In der beschriebenen Leere drückt sich aber auch eine fundamentale Unverbundenheit mit der Welt aus. Davon zeugt auch die aktuelle Thematisierung einer ’neuen Einsamkeit‘ (Diana Kinnert). Unterschiedlichste Studien belegen, dass der Anteil der Menschen, die sich einsam fühlen, stetig wächst. Gerade jüngere Menschen sind besonders betroffen. Hinter der ’neuen Einsamkeit‘ sieht Diana Kinnert eine Unverbundenheit im Kontext zunehmender Entfremdungserfahrungen. Dabei dienen die digitalen Inszenierungen zu einer Vernebelung des eigenen Befindens, immer mehr flüchten sich Menschen in Scheinwelten, in denen alles gut scheint, um dem Gefühl der Einsamkeit zu entrinnen.
Bürgerliches Subjekt und seine sozialpsychische Matrix
Depression, Narzissmus, Einsamkeit? Was sagt das nun über den ‚Zustand‘ des bürgerlichen Subjekts aus? Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es zunächst einer Annäherung an die Frage nach der sozialpsychischen Verfasstheit des bürgerlichen Subjekts. Bürgerliches Subjekt und seine sozialpsychische Matrix beruhen dabei zentral auf der Abspaltung des Weiblichen, dem Phantasma der Naturbeherrschung und der Imagination der Selbstsetzung. Sie sind zudem wesentlich mit der Verinnerlichung des Arbeitsethos verbunden. Dem entspricht eine Triebdynamik, in der bei Triebaufschub die Libido in froher Erwartung auf die ‚Belohnung für diese Versagung‘ in die Höhe schnellt. Dieser ‚Trick‘ der Libido, mit Triebversagungen umzugehen, legt gleichzeitig auch die Spur für Triebsublimierungsprozesse. Deutlich wird somit, dass die kapitalistische Gesellschaftsformation auch der Triebstruktur nicht äußerlich bleiben konnte. Hieraus lässt sich folgern: Erst mit dem kapitalistischen Patriarchat entsteht eine Triebstruktur, in der Ich, Es und Über-Ich als getrennte, miteinander im Konflikt stehende und damit die psychische Dynamik vermittelnde Instanzen interagieren.
Diese Lesart von Freuds Psychoanalyse ist dabei nur vor dem Hintergrund einer radikalen Aufklärungs- und Subjektkritik möglich – dies bedeutet auch, dass Freuds Subjektbegriff in seiner Aufklärungsaffirmation kritisiert werden muss. Das Subjekt als „moderne[r] Handlungsträger der abstrakten Arbeit und ihrer abgeleiteten Funktionen“ ist nichts anderes als die „gesellschaftliche Form des Handelns an den Individuen selbst: Wahrnehmungsform, Denkform, Beziehungsform, Tätigkeitsform“ (Kurz 2005, Substanz des Kapitals, Teil II: 210). Das Subjekt ist also nicht mit dem sozial-sinnlichen Individuum identisch, sondern „der bewusste (individuelle wie institutionelle) Träger der subjektlosen Verwertungsbewegung“ (Kurz 2004, Blutige Vernunft, 57). Für die Kritik der sozialpsychischen Matrix des Subjekts bedeutet dies, dass auch hier zwischen Subjekt und Individuum zu unterscheiden ist. Denn das sozial-sinnliche Individuum ist zwar mit der sozialpsychischen Matrix des bürgerlichen Subjekts konfrontiert, geht aber nicht in dieser auf.
Zum Geschlechterverhältnis des bürgerlichen (männlichen) Subjekts
Nun ist das bürgerliche Subjekt zunächst ein ‚männliches‘. Ich kann hier jetzt nicht im Detail auf die geschlechterdifferenten psychosexuellen Entwicklungen eingehen. Wichtig scheint mir für diesen Zusammenhang zunächst, dass auch, wenn es im Zuge postmoderner Entwicklungen durchaus zu einer Annäherung der geschlechtlichen Codes ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ gekommen ist, das hierarchische Geschlechterverhältnis keinesfalls verschwunden ist, vielmehr ist es hier zu ‚Verwilderungen‘ (Roswitha Scholz) gekommen. Innerhalb der sozialpsychischen Matrix sind ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ weiterhin Markierungen, an denen die psychosexuelle Entwicklung nicht vorbeikommt. Mit dem modernen Zweigeschlechtermodell wurden/werden Frauen wie Männer dazu gezwungen, geschlechtliche Identitäten in den Verlaufsformen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ auszubilden, wobei Weiblichkeit von vornherein abgewertet ist. Weiblichkeit ist das Fehlen des Phallus, der Mangel schlechthin. Der ‚Phallus‘ wird hingegen mit Autonomie, Macht und Selbstsetzung assoziiert. Für die Konstitution von ‚Männlichkeit‘ ist die ‚Abspaltung des Weiblichen‘ unerlässlich, nur so kann sich das Subjekt als freies und unabhängiges konstituieren. Dies ist dabei nicht etwas, das einmal vollzogen werden, sondern immer wieder neu hergestellt werden muss – vor allem dann, wenn ‚Männlichkeit‘ bedroht scheint. Eine so konstruierte ‚Männlichkeit‘ ist dabei von vornherein sehr krisenanfällig. Was aber passiert, wenn immer mehr die Grundlagen für eine halbwegs ‚zivilisierte Männlichkeit‘ wegbrechen?
Narzissmus als letzter Ausweg des Krisensubjekts
Robert Kurz schreibt in seinem Buch „Die Welt als Wille und Design“: „Soziale Beziehungslosigkeit heißt nichts anderes, als eine Ware auf zwei Beinen zu sein; der ‚expressive Individualismus‘ muss sich auch deswegen aufs Outfit verlegen, weil es hinter den Klamotten nur noch das Gespenst eines Individuums gibt: Nie war Adorno aktueller als in den postmodernen Zeiten der Love Parade, deren Mitläufer wirklich eine grobe Unverschämtheit begehen, wenn sie ‚Ich‘ sagen“ (Kurz 1999: 49).
Dieses Zitat lässt sich vor dem Hintergrund des Freud’schen Ich-Begriffs deuten. Freud geht davon aus, dass das Ich nicht von Geburt an besteht, sondern sich konflikthaft entwickelt (vgl. Freud, Gesammelte Werke X: 142). Als maßgebliche Antriebskraft der Ichkonstitution benennt Freud dabei den ‚primären Narzissmus‘. In der ‚Subjekt-Objekt-Einheit‘ des primären Narzissmus bleiben Subjekt und Objekt nur unscharf voneinander getrennt. Für Freud war dabei die Überwindung des primären Narzissmus zentral für die Entwicklung eines reiferen, stabileren Ichs. In Bezug auf die sozialpsychische Matrix des postmodernen Subjekts ist nun von einer Dominanz eines ’narzisstischen Ichs‘ als Träger der psychischen Vermittlung auszugehen – einem ‚Ich‘ also, das sich tatsächlich nicht im oben beschriebenen Sinne ‚Ich‘ nennen kann: zu unklar bleiben die Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt.
Gerade dadurch, dass die Wege einer ‚gelingenden‘ Ich-Entwicklung – wobei klar sein dürfte, dass es diese innerhalb des Kapitalismus ohnehin kaum gegeben hat – immer weiter durch die Realität blockiert werden, bleibt für das Subjekt nur noch der narzisstische Rückzug auf sich selbst, wobei das eigene Ich so ‚leer‘ ist, dass es einer ständigen Selbstinszenierung bedarf, um sich überhaupt am Leben zu halten bzw. nicht in der Depression zu versinken.
Nun betrifft die Thematik des Narzissmus freilich beiderlei Geschlechter, aber eben durchaus anders gelagert: während Frauen weiterhin eher dazu neigen, depressiv zu werden (auch wenn auch immer mehr Männer an Depressionen erkranken) und die Aggressionen gegen sich selbst zu richten, neigen Männer – eben auch qua des Zwangs der permanenten Selbstsetzung – eher zu einem Ausagieren im Außen: ist die eigene Männlichkeit zu sehr bedroht, muss sie im außen wieder hergestellt werden. Der Zusammenhang zwischen Krisenmännlichkeit und Narzissmus wird dabei am Amok besonders deutlich: der letzte Akt der männlich-narzisstischen Selbstsetzung ist der erweiterte Suizid, in dem schlussendlich die Weltvernichtung imaginiert wird.
So oder so kann die Welt der Objekte mit einer narzisstischen Brille nur verzerrt wahrgenommen werden: Objekte, dazu gehören auch Inhalte oder Ereignisse etc., können nur unmittelbar einverleibt oder vernichtet, verleugnet etc. werden, sie können aber nicht ‚verdaut‘, ‚verarbeitet‘ werden. Das führt schnell zu einer aggressiven Grundstimmung eines ‚Wer nicht für mich ist, ist gegen mich‘, jeder kann in sekundenschnelle zum Feind werden. Die Gefahr von Ohnmacht wird in Allmacht umzudrehen versucht, zur Not auch mit Gewalt. Je komplexer, schneller und unübersichtlicher, gleichzeitig aber bedrohlicher, die allgemeinen Verhältnisse werden, desto größer scheint das Bedürfnis nach vermeintlichen Eindeutigkeiten. Und genau hier sitzt ein Einfallstor für Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Verschwörungsideologie etc. Insofern wundert es kaum, dass die Zahlen von rassistisch, sexistisch, antisemitisch und antiziganistisch motivierten Straftaten im letzten Jahr nochmals deutlich gestiegen sind. Insgesamt dürfte klar sein, dass Corona Gewaltpotentiale sowie die weitere Verbreitung von Einsamkeit und Depressionen zusätzlich befördert hat und auch hier als Brandbeschleuniger wirkte und noch wirken wird, vor allem dann, wenn das Geld, das über Corona ausgeschüttet wurde, wieder rein geholt werden muss…
Leni Wissen