„Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird…“ (Joh 3,5)

Joh 2,23 – 3,21

23 Während er zum Paschafest in Jerusalem war, kamen viele zum Glauben an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. 24 Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle 25 und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen; denn er wusste, was im Menschen war.

1 Es war da einer von den Pharisäern namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden. 2 Der suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. 3 Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden? 5 Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von oben geboren werden. 8 Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. 9 Nikodemus erwiderte ihm: Wie kann das geschehen? 10 Jesus antwortete: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? 11 Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, das bezeugen wir und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an. 12 Wenn ich zu euch über irdische Dinge gesprochen habe und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu euch über himmlische Dinge spreche? 13 Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. 14 Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. 16 Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. 17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. 18 Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. 19 Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. 20 Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Die Erzählung des Johannes spielt weiter in Jerusalem. Dort hält sich Jesus wegen des Paschafestes auf. Unserer Szene voraus geht die sog. Tempelreinigung (2,1-22). Während Jesu Aufenthalts in Jerusalem – so erzählt Johannes…

„… kamen viele zum Glauben an seinen Namen…“ (2,23)

Es geschieht das, wovon Johannes im Prolog gesprochen hatte: Menschen glauben „an seinen Namen“ (1,12). Und dennoch ist Jesus skeptisch. Er „vertraute sich ihnen nicht an“ (V. 24). Manche gehen davon aus, Jesus sei skeptisch, weil es nur um einen Glauben gehe, der auf „Zeichen“ beruhe. Dem steht aber entgegen, dass Johannes es durchaus positiv bewertet, dass seine Jünger an Jesus glaubten, nachdem er bei der Hochzeit zu Kana (2,1-12) „sein erstes Zeichen“ getan und darin „seine Herrlichkeit“ offenbart hatte (2,11). Dennoch gibt es die Erfahrung, dass jüdische Menschen, obwohl sie „zum Glauben an“ Jesus „gekommen waren“ (8,31), nicht bei Jesu Wort, bei seiner Auslegung der Tora bleiben. Andere „glaubten … nicht an ihn“, „obwohl“ er „so viele Zeichen vor ihren Augen getan hatte“ (9,37).

Mit dem ‚Glauben‘ scheint es nicht so einfach zu sein. Er muss sich „in der Bedrängnis“ (16,33) bewähren, d.h. in einer Situation, in der trotz der Auferweckung des Gekreuzigten und des mit ihr verbundenen Siegs über die Weltordnung Roms diese Weltordnung weiter herrscht und die MessianerInnen verfolgt und in die Enge treibt. Wir können das mit ‚glauben‘ übersetzte griechische Wort ‚pisteuein‘, das dem hebräischen ‚aman‘ (von dem unser Amen kommt) nahesteht, mit ‚vertrauen‘ übersetzten. Dann kann deutlicher werden, worum es geht: Offensichtlich fällt es auch Menschen, die zu Jesus gehören wollen, schwer, darauf zu vertrauen, dass mit ihm Israel aufgerichtet und eine messianische Welt angebrochen sein soll. Deshalb bleibt Jesus skeptisch: Er weiß, dass solches Vertrauen schnell in die Krise geraten oder so ins Gegenteil umschlagen kann, dass auch solche, „die zum Glauben an ihn gekommen waren“ (8,31), ihn töten wollen und sich damit wieder zu „Sklaven der Sünde“ machen statt als befreite „Kinder Gottes“ (1,12) zu leben (vgl. 8,31ff). Wenn Johannes sagt: Jesus „wusste, was im Menschen war“ (2,25), steht das zum einen im Zusammenhang mit Jesu ‚Wissen‘, das sich aus seiner Gemeinschaft mit dem Vater, seiner Verwurzelung in Israels Gott ergibt. Von Gott heißt es bei Jeremia: „Ich, der Herr, erforsche das Herz und prüfe die Nieren…“ (Jer 17,10). Zugleich spiegeln sich darin auch Erfahrungen, die in der messianischen Gemeinde in der Konfrontation mit dem Imperium gemacht wurden. Ein Beispiel dafür ist Nikodemus, der Jesus in der nächsten Szene begegnen wird.

Es war da einer von den Pharisäern …, ein führender Mann unter den Juden“ (3,1) … und suchte Jesus bei Nacht auf … “ (3,2)

Nikodemus wird als „einer von den Pharisäern“ vorgestellt, der zugleich „ein führender Mann unter den Juden“ (3,1) ist. Auf der Ebene der Erzählung ist er ein Schriftgelehrter, den Jesus als „Lehrer Israels“ (3,10) anspricht. Im Lauf der Erzählung wird deutlich, dass er dem ‚Hohen Rat‘, dem höchsten Gremium jüdischer Selbstverwaltung im Rahmen der römischen Herrschaft, angehörte. Als solcher besteht er auf einem rechtlich korrekten Verfahren gegenüber Jesus (7,50f).

Auf der Ebene der Zeit des Johannes, in die hinein das Evangelium erzählt wird, repräsentiert Nikodemus die Pharisäer, die nach der Zerstörung des Tempels und dem Ende der Hohepriester zu „führenden Männern unter den Juden“ geworden waren. Sie sahen ihre Aufgabe darin, das zerstreute Israel zu konsolidieren, es durch die Bindung an die Tora zusammen zu halten und durch Verzicht auf Provokationen gegenüber Rom neue Konflikte und Kriege zu vermeiden. Unter diesen „führenden Männern“ gab es wohl solche, die wie Nikodemus mit den Messianern sympathisierten, sich aber nicht offen zu ihnen bekennen wollten. Weil sein Kontakt zu Jesus geheim bleiben sollte, sucht Nikodemus „Jesus bei Nacht auf“ (3,2). In diesem ‚Zwielicht‘ bleibt Nikodemus auch an den anderen Stellen, in denen er im Evangelium auftaucht. Als er vor dem ‚Hohen Rat‘ auf einem rechtlich korrekten Verfahren gegenüber Jesus besteht, erwähnt Johannes, dass er „früher einmal Jesus aufgesucht hatte“ (7,50) und erzählt, dass er sich schnell wieder zurückzieht, als sein Vorstoß zurückgewiesen wurde (7,51f). Zum Begräbnis Jesu taucht er an der Seite von „Josef aus Arimathäa“ (19,38ff) auf, der Pilatus um die Freigabe von Jesu Leichnam gebeten hatte. Ihn nennt Johannes einen „Jünger Jesu, aber aus Furcht vor den Juden nur im Verborgenen“ (19,38). Nikodemus trägt zu Jesu Salbung zum Begräbnis eine teure „Mischung aus Myrre und Aloe“ (19,39) bei. Und auch in diesem Zusammenhang erwähnt Johannes, Nikodemus sei jener, der „früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte“ (19,39).

Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (3,3)

So lautet Jesu schroffe Antwort auf die nächtliche Kontaktaufnahme des Nikodemus. Dabei hatte er sich ausgesprochen entgegenkommend an Jesus heran getastet. Er hatte ihn als einen von Gott kommenden Lehrer bezeichnet; „denn“ – so Nikodemus – „niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist“ (3,2). Hier ist die Thematik der Zeichen wieder aufgenommen (vgl. 2,11.23). Offensichtlich gibt es Menschen, die aus den Zeichen Schlüsse ziehen, die zwar in die richtige Richtung weisen, aber doch nicht so recht wahrhaben wollen, was in ihnen steckt.

Genau darauf zielt Jesu schroffe Antwort: „Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (3,3). Mit der Formulierung „von oben“ bzw. ‚von neuem‘ ist ein Bruch angesprochen, der für die messianische Gemeinde unverzichtbar ist. Jesu Herkunft ist ‚von oben‘. Er kommt von Gott (Joh 1,1-17). Deshalb kommt in seinem Reden und Handeln Israels Gott der Befreiung so zur Geltung, dass Jesus sagen kann: „Ich und der Vater sind eins“ (19,30). Zugleich ist Jesus „der Menschensohn“ (3,13). Nach Daniel kommt er ‚von oben‘, aus der Welt Gottes, und beendet die Herrschaft der Weltreiche, die in Gestalt von Bestien dargestellt werden (Dan 7). Als dieser Menschensohn – darauf wird das mit Nikodemus begonnene Gespräch hinauslaufen – wird er in der Erniedrigung des Kreuzes „erhöht werden“ (3,14).

Dass Jesus auf diese Weise „von oben“ kommt, ist nicht eine harmlose fromme Aussage, sondern markiert einen Bruch, den Bruch mit der römischen Herrschaft. Dazu aber ist Nikodemus nicht bereit. Dann aber hat er auch nicht die Wahrheit erkannt, die in den „Zeichen“ steckt, die Jesus tut. Deshalb gehört Nikodemus zu jenen „führenden Männern“, die zwar ‚irgendwie‘ „zum Glauben“ an Jesus kamen, ihm vertrauen und mit ihm sympathisieren, sich aber nicht offen bekennen, „um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden“ (12,42ff). Unter dem Strich – so das harte Urteil des Johannes – „lieben sie die Ehre der Menschen mehr als die Ehre Gottes“ (12,43). Sie sind nicht mit Israels Gott der Befreiung, sondern mit Rom solidarisch. Die Unterscheidung zwischen der „Ehre der Menschen“ und der „Ehre Gottes“ ist für Johannes die Unterscheidung zwischen Götzen und Gott, zwischen Unterdrückung und Befreiung, zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Tod und Leben. Ohne diese Unterscheidung kann Nikodemus das immer wieder ‚gerne genommene‘ und beschworene „Leben in Fülle“ (10,10), das „Reich Gottes“ nicht „sehen“. Dabei geht es nämlich nicht um ein visionär erträumtes Schlaraffenland, sondern um ein Leben jenseits von Herrschaft, von Unterdrückung und Gewalt – und das ist ohne Bruch damit nicht zu haben. Da reicht nicht ein ‚bisschen‘ Frieden bei viel Krieg, ein ‚bisschen‘ Befreiung bei viel Repression… Wer auf den Messias vertraut, kann nicht auch auf Rom vertrauen – auch nicht ein ‚bisschen‘. Deshalb besteht Jesus darauf, dass es notwendig ist, ‚von oben‘ oder auch ‚von neuem‘ oder ‚ein zweites Mal‘ geboren zu werden.

Ein gescheitertes Gespräch: „Nikodemus entgegnete…“ (3,4) – und „Jesus antwortete“… (3,5)

Da hält sich Nikodemus lieber an das, was er ‚sehen‘ kann. Er insistiert auf etwas, was empirisch unmöglich ist: Ein Mensch kann nicht zweimal geboren werden und flüchtet in ein absurdes Beispiel. Noch immer nicht holt Jesus Nikodemus pastoral verständnisvoll ‚da ab, wo er steht‘, sondern wiederholt bekräftigend, was inhaltlich zu sagen ist: „Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (3,5). Dabei wird deutlich, dass ‚von oben geboren werden‘ heißt ‚aus dem Geist geboren werden‘. Damit ist auf die in den Abschiedsreden angekündigte Verheißung des Geistes vorgegriffen. Er ist der „Beistand“, der in der „Bedrängnis“ die Kraft gibt, stand zu halten (16,4bff), der „euch alles lehren und an alles erinnern“ wird „was ich euch gesagt habe“ (14,26), der einen anderen Frieden gibt als „die Welt(ordnung) ihn gibt“ (14,27, vgl. auch 20,19ff).

Mit der Verbindung von Geist und Wasser ist auf die Taufe angespielt. Sie steht für den Bruch mit ‚Geist und Logik‘ des Imperiums und für den Neubeginn und die Verheißung der Zukunft (Reich Gottes, Leben in Fülle, neue Weltzeit), die damit verbunden sind. Der Zusammenhang von Wasser und Geist findet sich beim Propheten Ezechiel (36,24-28). Mit der Befreiung aus dem babylonischen Exil wird Israel neu gesammelt. Das über das Volk ausgegossene Wasser steht für die Reinigung „von all euren Götzen“ (Ez 36,25) und der Geist ersetzt die steinerne Hartherzigkeit durch „ein Herz von Fleisch“, das fähig und bereit macht, die Wege der Befreiung neu zu gehen und sich dabei an der Tora zu orientieren, die sich Gottes Volk neu ‚zu eigen‘ macht. Das hat mit esoterischer Innerlichkeit nichts, aber alles damit zu tun, dass Gottes Volk so von Gottes Geist erfüllt ist, dass es – analog zu dem, was Maria im Magnificat besingt (Lk 1,46ff) – mit Herren, Herrschaften und Gewalttätigen bricht und so ‚von neuem geboren wird‘.

Wie sehr es beim ‚von neuem geboren werden‘ durch ‚Wasser und Geist‘ um einen Bruch geht, unterstreicht die Gegenüberstellung von „Fleisch“ und „Geist“ (3,6). Dabei hat Johannes nichts mit einer Abwertung der materiell fleischlichen Existenz von Menschen im Sinn. Solches „Fleisch“ ist ja auch das Wort geworden, das im Fleisch des Messias lebendig ist (1,14). „Ein Leben ‚nach dem Fleisch‘ ist ein angepasstes Leben, anfällig für die Korruption durch die Weltordnung“1, anfällig dafür „die Ehre von Menschen mehr als die Ehre Gottes“ zu lieben (12,43). Das ‚Woher‘, von dem der Wind weht, der Menschen aus solcher Anfälligkeit befreit und ihnen Widerstandsfähigkeit schenkt, bleibt ihrer Verfügung entzogen. Der Geist bleibt eine Sendung vom Vater her, die nur ‚empfangen‘ (20,22) werden kann, um so in der Spur des Gekreuzigten und auferweckten Messias Gottes Wege der Befreiung zu gehen und ihnen Widerständen zum Trotz treu zu bleiben. Dabei entzieht sich nicht nur das ‚Woher‘ der Verfügbarkeit, sondern auch das ‚Wohin‘. Wege der Befreiung sind zu gehen ohne verfügendes Wissen darüber, wohin sie führen, aber im Vertrauen darauf, dass der Geist sie begleiten und sie immer wieder neu ‚inspirieren‘ wird.

Nikodemus beharrt auf seinem Unverständnis. Er will sich nicht ‚belehren‘ lassen und besteht darauf, dass das, was Jesus sagt, nicht zu verstehen ist; er verschließt sich dem Geist, der „lehren“ und „erinnern“ will. Ganz ‚unpastoral‘ redet Jesus wieder zur Sache und macht auf einen Widerspruch aufmerksam: „Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht?“ (3,9). Einer, der sich nicht von Gottes Wort und dem Geist, der in ihm steckt, ‚belehren‘ lassen will, kann kein „Lehrer Israels“ sein. Damit ist das Gespräch beendet, und Nikodemus verschwindet aus der Szene. Dennoch redet Jesus weiter:

Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, davon reden wir, und das, was wir gesehen haben, das bezeugen wir und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an“ (3,11)

Der sprachliche Übergang von der Einzahl („ich sage dir“) in den Plural („wir wissen…“) ist ein Hinweis darauf, dass Johannes Jesu Rede jetzt an rabbinisch orientierte Juden gerichtet sein lässt, deren Repräsentant Nikodemus ist und die in der Zeit des Johannes das Gegenüber zur messianischen Gemeinde bilden. Ihnen gegenüber legt die messianische Gemeinde Zeugnis vom Messias Jesus ab, der Israel aufrichten und von Rom befreien will. Dieses Zeugnis aber wird nicht angenommen – und das, obwohl Jesus zu ihnen über „irdische Dinge“ (3,12) gesprochen hat. Was damit gemeint ist, wird nicht recht klar. Am ehesten könnte auf den irdischen Weg des Messias angespielt sein, der zum Kreuz führt und ‚irdisch‘ gescheitert ist. Dieser irdische Weg kann aber nur dann als Weg Gottes verstanden werden, wenn darin der Weg des Himmels, der Weg Gottes erkennbar wird. Deshalb muss Jesus jetzt über „himmlische Dinge“ (3,12) reden. Er tut es, indem er auf den „Menschensohn“ (3,13) verweist; denn…

„… niemand ist in den Himmel hinauf gestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn“ (3,13)

Was das Hinaufsteigen in den Himmel angeht, wird Johannes mit seinen Ostergeschichten verdeutlichen. Der Auferstandene muss zum Vater hinauf gehen. Deshalb darf Maria Magdalena ihn nicht festhalten (20,17). Nur dann ist das Ziel der Solidarität, das Einssein von Vater und Sohn (10,30), erreicht. Nur dann kann die messianische Gemeinde den Geist empfangen, in dem sie ‚von oben‘, ‚von neuem‘ geboren und gesandt wird, solidarisch der Herrschaft des Imperiums zu widerstehen und darin Zeugnis zu geben von Israels Gott, der sein Volk neu aufrichtet und sammelt. „In den Himmel hinauf“ steigt der, der „vom Himmel herabgestiegen ist“ (3,13). Wieder greift Johannes die Tradition vom Menschensohn auf wie sie sich im Buch Daniel findet. Der Menschensohn steigt aus dem Himmel, aus der Welt Gottes herab, um den Bestien, d.h. bestialischen Systemen der Herrschaft, die Stirn zu bieten und ihrer Herrschaft ein Ende zu setzten. Davon kündet die Erzählung von dem ‚irdisch‘ von Rom gekreuzigten von Gott aber in den Himmel auferweckten Messias. Mit dieser Erhöhung des von Rom Erniedrigten hat Gott die Macht Roms durchkreuzt und durchbrochen. Mit der messianischen Gemeinde ist eine Gemeinde der „Heiligen des Höchsten“ (Dan 7,18) entstanden, die gegen das Imperium für Gottes neue Welt einsteht, in die hinein sie neu geboren ist.

Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat…“ (3,14)

Um die Erhöhung des am Kreuz Erniedrigten zu verdeutlichen, greift Johannes auf eine Tradition des Ersten Testaments zurück. Im Buch Numeri wird die Geschichte von einer kupfernen Schlange erzählt (21,4-9). Sie steht im Zusammenhang des Wunsches, zurück nach Ägypten umzukehren, weil das Volk an Gottes Verheißung zweifelte und fürchtete, in der Wüste umzukommen. Da kamen Feuerschlangen. „Sie bissen das Volk und viel Volk aus Israel starb“ (21,6). Der Weg zurück nach Ägypten – so soll in dieser Geschichte deutlich werden – ist ein Weg in den Tod. Nachdem der Irrweg erkannt worden war, betet Mose zu Gott, dass er sein Volk „von den Schlangen befreit“ (21,7), damit es den Weg der Befreiung weitergehen kann. Mose machte nun „eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Stange auf“ (21,9). Wer gebissen wurde und zu ihr aufblickte, „blieb … am Leben“ (ebd.). Im Bild der aufgehängten Schlange wird erkennbar, was es bedeutet, den Weg der Befreiung zu verspielen. „Wer sich das vor Augen führt, wer sich dessen bewusst ist, was verspielte Freiheit ist, der wird geheilt“2.

Zur Zeit des Johannes befindet sich Israel im Sklavenhaus Roms. Wer auf das Kreuz des Messias blickt, kann erkennen, was die Herrschaft Roms bedeutet. Der vom Himmel herabgestiegene Menschensohn aus dem Buch Daniel wird bei Johannes zum Bild der Erniedrigten. „Seht der Mensch!“ sagt Pilatus, als er den gefolterten Jesus den Hohepriestern und ihren Dienern vorführen lässt (19,5). Der Menschensohn erscheint hier nicht als machtvoller Repräsentant der Herrschaft Gottes, der die Bestien entmachtet, sondern als der ohnmächtig und gedemütigt der Macht ausgelieferte Mensch. In seiner Erhöhung den Anfang der Befreiung und die Geburt einer neuen Weltzeit zu sehen, das könnte heißen, in dieser Form des ‚Irdischen‘ die Befreiung zu ‚sehen‘, die vom Himmel herab gestiegen ist, „damit jeder, der ihm glaubt, in ihm ewiges Leben hat“ (3,15). Damit ist die Befreiung nicht auf die ‚Gläubigen‘ eingeschränkt, sondern die messianische Gemeinde als Ort benannt, an dem das „ewige Leben“ als Beginn einer neuen Weltzeit für alle Wirklichkeit zu werden beginnt.

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab…“ (3,16)

Es geht nicht um ‚lieben‘ im Sinne einer ‚Liebe‘ zu FreundInnen. Dafür gibt es im Griechischen ein anderes Wort (phileo), sondern um eine solidarische Beziehung wie sie in dem Wort agapao zum Ausdruck kommt. Gottes Solidarität bezieht sich hier nicht auf die Welt(ordnung) Roms, sondern auf die Welt als Schöpfung, als ‚Kosmos‘ Gottes (Gen 1). Mit seiner Schöpfung und den unter der Herrschaft Roms leidenden Geschöpfen ist Israels Gott solidarisch. Um dies zu veranschaulichen, greift Johannes auf die Geschichte von der ‚Opferung‘ des Isaak zurück (Gen 22). Isaak ist Abrahams ‚einziger Sohn‘, wörtlich sein ‚einzig geborener‘ so wie es Johannes an dieser Stelle auch von Jesus sagt. Wird dieser ‚einzig geborene‘ getötet, hat Israel keine Zukunft mehr. Wird Isaak getötet, ist die Verheißung dementiert; denn am Leben Isaaks hängt es, ob die Verheißung in Erfüllung geht, Abraham werde der Stammvater eines großen Volkes (Gen 12). Am Leben des Messias hängt es, dass Israel aufgerichtet wird und mit ihm eine neue ‚Weltzeit‘ (‚ewiges Leben‘ wie in der Regel übersetzt wird) beginnt. Isaak wurde die Tötung erspart, der Messias hingerichtet. Das ist nicht das Ergebnis eines ‚ewigen göttlichen Ratschlusses‘, sondern das Ergebnis einer geschichtlichen Konstellation, in der Rom seine Macht gegen eine messianische Welt durchgesetzt hat. In dieser Konstellation – so Johannes – hat Gott seine Solidarität mit seiner Schöpfung und mit seinen Geschöpfen darin gezeigt, dass der Weg des Messias solidarisch war mit den Erniedrigten bis zu seiner Erniedrigung am Kreuz der Römer, dass er diesem Erniedrigten die Treue gehalten und ihn dadurch ‚erhöht‘ hat, dass er mit ihm den Anfang einer ‚neuen Weltzeit‘ gesetzt hat. Darin geht es nicht darum, dass Gott die Welt richtet, sondern darum, dass „die Welt durch ihn gerettet (befreit) wird“ (3,17).

Dennoch bzw. um der Rettung/Befreiung willen gibt es keine schiedlich-friedliche Koexistenz von Herrschaft und Befreiung, von Unterdrückung und Frieden. Vielmehr scheiden sich an Gott und seinem Messias, an Befreiung und Herrschaft, Leben und Tod die Geister:

Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den einzigen Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat“ (3,18)

Befreiung ist denen versprochen, die den Wegen der Befreiung vertrauen wie sie der Messias Jesus gegangen ist und von Gott nicht gerichtet, sondern gerettet wurde. Dieses Versprechen gilt allen, die Wege der Befreiung gehen – ob sie dabei explizit ‚an‘ Jesus glauben oder nicht. Wer jedoch nicht auf die Befreiung von Herrschaft vertraut, „ist schon gerichtet“ (3,18). Er gehört nicht zur Welt Gottes und seines Messias, sondern zur Weltordnung des Imperiums. Er beharrt auf Herrschaft – auch dann, wenn er – wie Nikodemus ‚heimlich‘ und ‚bei Nacht‘ – ein ‚bisschen‘ oder ‚ein Stück weit‘ mit Befreiung und Frieden sympathisiert. Deshalb ist er gerichtet wie die Weltordnung. Sie muss gerichtet werden, damit die Welt als Schöpfung Gottes und die Geschöpfe gerettet werden kann.

Denn darin besteht das Gericht…“ (3,19)

Johannes verdeutlicht das Gericht an der Scheidung von Licht und Finsternis am Tag eins der Schöpfung (Gen 1,3f). Bei den Scheidungen, die Johannes im Blick hat, geht es nicht um gnostische Dualismen, sondern um Konflikte im Kampf um Befreiung. Herrschaft scheut das Licht der Befreiung, macht den Messias als ‚Lichtträger‘ (wörtlich: ‚Lucifer‘) zum Satan. Wer mit Rom verbunden ist, liebt „die Finsternis mehr als das Licht“ (3,19), ist mit der Finsternis der Weltordnung solidarisch und meidet das Licht der Befreiung, damit „seine Taten nicht aufgedeckt werden“ (3,20). Solche Taten, die nach Johannes „böse“ sind, sind Handlungen, die in Übereinstimmung mit der Weltordnung stehen. Sie sind alltäglicher Götzendienst, da sie in ihrem Tun den Gott der Befreiung verleugnen. Heute könnten wir von einem Handeln im Sinne der ‚Alltäglichkeit‘, der kapitalistischen Welt und ihres Götzendienstes in der Anerkennung der Welt, wie sie ist, sprechen. Solcher Götzendienst führt nicht zum Leben, sondern in die Finsternis des Todes.

Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind“ (3,21)

Zum Licht kommt“ hingegen, wer die „Wahrheit tut“. In diesem Licht wird offenbar, dass „seine Taten in Gott vollbracht sind“, d.h. im Einklang stehen mit der Befreiung, für die der Name Gottes steht. Wer so handelt, kann das nicht im Einklang mit den römischen Verhältnissen tun, von denen die ‚Alltäglichkeit‘ des Lebens geprägt ist. Hier muss die Wahl zwischen Segen und Fluch, Leben und Tod durchbuchstabiert werden, vor die die Tora stellt (Dtn 30,15ff). Hierin sind die Gebote verwurzelt, von denen Johannes spricht, wenn er Jesus die Mahnung in den Mund legt, seine Gebote zu halten (Joh 13,34f, 15,10ff). Gemeint sind die Weisungen der Tora als Weisungen zu einem von Herrschaft und Gewalt befreiten Leben. Darin geht es um die Wahrheit Gottes als Wahrheit der Befreiung. Sie soll ans Licht kommen und offenbar werden. Wie das im einzelnen und in den einzelnen Lebenszusammenhängen geht, die von der Herrschaft Roms geprägt sind, muss immer wieder neu bedacht werden. Grundlage dafür aber ist der Bruch mit dieser Herrschaft, mit ihrem ‚Geist‘ und mit ihrer Logik. Für diesen Bruch steht das Bild des Neu-Geboren-Werdens, die Weigerung, sich diesen Geist und seine Logik ‚zu eigen‘ zu machen.

Im Blick auf die heute prägende kapitalistische Welt formuliert: Wer die Wahrheit tut, kann nicht im Sinn der Logik des den Alltag prägenden Kapitalismus denken, fühlen und handeln. An seine ‚Alltäglichkeit‘ kann die Verkündigung gerade nicht anknüpfen. Im Gegenteil, sie muss ‚durchleuchtet‘ und ihr muss widersprochen werden. Hier geschieht eben nicht – wie gerne behauptet wird – ein ‚Gottesdienst im Alltag der Welt‘, sondern Götzendienst, der alltägliche Dienst gegenüber den Verhältnissen, die von der Unterwerfung unter die Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen und der Abspaltung der weiblich konnotierten, minder bewerteten reproduktiven, sorgenden und pflegenden Tätigkeiten geprägt sind. Die ‚alltägliche‘ Finsternis ist so groß, dass sie nicht einmal mehr ‚gesehen‘ wird. Im Bruch mit diesen Verhältnissen und in der ‚Neugeburt‘ in einem anderen Denken lässt sich dann überlegen, wie dieser Bruch im Alltag zur Geltung gebracht werden kann und Wege zur Überwindung dieses Alltags gefunden werden können.

Herbert Böttcher

1Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums. Teil I: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte. Exegetische Zeitschrift, Nr. 109 – 111, Berlin 2006, 55f.

2Ebd., 58.