„Bist du der König der Juden?“ Die Leidensgeschichte Jesu Christi – Zu Joh 18 – 19

Joh 18,28-39

28 Von Kajaphas brachten sie Jesus zum Prätorium; es war früh am Morgen. Sie selbst gingen nicht in das Gebäude hinein, um nicht unrein zu werden, sondern das Paschalamm essen zu können. 29 Deshalb kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen? 30 Sie antworteten ihm: Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert. 31 Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn doch und richtet ihn nach eurem Gesetz! Die Juden antworteten ihm: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten. 32 So sollte sich das Wort Jesu erfüllen, mit dem er angedeutet hatte, welchen Tod er sterben werde. 33 Da ging Pilatus wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden? 34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt? 35 Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan? 36 Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier. 37 Da sagte Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. 38 Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. 39 Ihr seid aber gewohnt, dass ich euch zum Paschafest einen freilasse. Wollt ihr also, dass ich euch den König der Juden freilasse? 40 Da schrien sie wieder: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.

Joh 19,1-21.28-30.38-40

1 Darauf nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. 2 Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf das Haupt und legten ihm einen purpurroten Mantel um. 3 Sie traten an ihn heran und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht. 4 Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, dass ich keine Schuld an ihm finde. 5 Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch! 6 Als die Hohepriester und die Diener ihn sahen, schrien sie: Kreuzige ihn, kreuzige ihn! Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn! Denn ich finde keine Schuld an ihm. 7 Die Juden entgegneten ihm: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat. 8 Als Pilatus das hörte, fürchtete er sich noch mehr. 9 Er ging wieder in das Prätorium hinein und fragte Jesus: Woher bist du? Jesus aber gab ihm keine Antwort. 10 Da sagte Pilatus zu ihm: Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen? 11 Jesus antwortete ihm: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; darum hat auch der eine größere Sünde, der mich dir ausgeliefert hat. 12 Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen, aber die Juden schrien: Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich zum König macht, lehnt sich gegen den Kaiser auf. 13 Auf diese Worte hin ließ Pilatus Jesus herausführen und er setzte sich auf den Richterstuhl an dem Platz, der Lithostrotos, auf Hebräisch Gabbata, heißt. 14 Es war Rüsttag des Paschafestes, ungefähr die sechste Stunde. Pilatus sagte zu den Juden: Seht, euer König! 15 Sie aber schrien: Hinweg, hinweg, kreuzige ihn! Pilatus sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohepriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser.

16 Da lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde. Sie übernahmen Jesus. 17 Und er selbst trug das Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgota heißt. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte aber Jesus. 19 Pilatus ließ auch eine Tafel anfertigen und oben am Kreuz befestigen; die Inschrift lautete: Jesus von Nazaret, der König der Juden. 20 Diese Tafel lasen viele Juden, weil der Platz, wo Jesus gekreuzigt wurde, nahe bei der Stadt lag. Die Inschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. 21 Da sagten die Hohepriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.

28 Danach, da Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet. 29 Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm voll Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund. 30 Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.

38 Josef aus Arimathäa war ein Jünger Jesu, aber aus Furcht vor den Juden nur im Verborgenen. Er bat Pilatus, den Leichnam Jesu abnehmen zu dürfen, und Pilatus erlaubte es. Also kam er und nahm den Leichnam ab. 39 Es kam auch Nikodemus, der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte. Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund. 40 Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.

 

Ein Brennpunkt der Passionsgeschichte im Johannesevangelium ist die Frage nach Jesus als dem König der Juden. Dahinter steht die Frage, wer in Israel ‚Herr’ sein kann. Sie ist angesichts der römischen Gewaltherrschaft brisant. Johannes spitzt sie so zu: Kann dieser gefolterte, verspottete und mit den Worten „Seht, da ist der Mensch!“ vorgeführte Jesus von Nazaret „der König der Juden“ sein? Hat es einen Sinn, auf einen solchen Messias seine Hoffnung zu setzen? Solche Fragen beschäftigen die Gemeinde des Johannes gegen Ende des ersten und Anfang des zweiten Jahrhunderts. Statt der Erfüllung messianischer Hoffnungen auf Befreiung erlebt sie die Zerstörung Jerusalems. Das römische Weltreich triumphiert über alle Sehnsucht nach einem Ende der Gewalt. Stattdessen ist die römische Herrschaft neu gefestigt. Dennoch bekennt sich die Gemeinde des Johannes zu dem Messias Jesus, der von der römischen Staatsmacht hingerichtet worden war. Kreuzigung war ja die Strafe für ‚politische Unruhestifter’. Zu ihnen wurde auch Jesus gezählt; denn ihm ging es um Befreiung von Unrecht und Gewalt. Da ist es für die Johannesgemeinde gefährlich, sich zu diesem gekreuzigten Messias zu bekennen. Ein solches Bekenntnis zieht den Ausschluss aus der Synagoge (9,22) und den Hass der römischen Weltordnung nach sich (15,18-20). Für die Johannesgemeinde bedeutet dies: Isolation und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben bis hin zu ‚wirtschaftlichem Boykott’, vor allem aber die Gefahr der Auslieferung an die römische Besatzungsmacht.

Sind mit dieser Erfahrung – so fragen sich viele – nicht der Messias Jesus und die mit ihm verbundenen Hoffnungen widerlegt? Statt ‚Leben in Fülle’ (10,10) drohen Verfolgung und Tod. Dieser Messias bringt nicht Rettung (4,42), sondern Untergang. Angesichts solcher Erfahrungen erzählt Johannes seine Passionsgeschichte. Er will deutlich machen, dass entgegen des Augenscheins gerade dieser Gekreuzigte das Imperium und seine Macht besiegt hat. So paradox es auch erscheinen mag: Dieser Gekreuzigte erweist sich in seiner Niederlage als der „König der Juden“.

Die Frage, ob Jesus „der König der Juden“ sei, steht im Mittelpunkt der Verhandlung vor Pilatus. Dieser ist zunächst beruhigt zu hören, dass Jesu Königtum „nicht von dieser Welt“ (18,36) ist. Dabei geht es jedoch nicht um ein ‚rein’ geistliches gegenüber einem ‚politisch-ökonomischem’ Königtum, sondern um die andere Art von Jesu Königtum. Besser ließe sich Jesu Antwort an Pilatus deshalb übersetzen mit: „Mein Königtum ist nicht nach der Art dieser Weltordnung“, d.h. nach der Art der Herrschaft des römischen Imperiums. Deshalb verfügt Jesus auch über keine Militärmacht, die für ihn und sein Königtum kämpft (18,37). Ihm geht es nicht um die Erringung, sondern um die Befreiung von Herrschaft, die Menschen versklavt und demütigt.

Dieser seltsame König ist in die Weltordnung gekommen, damit er „für die Wahrheit Zeugnis ablege“ (18,37). Seine Wahrheit ist die Wahrheit der Treue des Gottes Israels. Sie erweist sich darin – so beschreibt es Psalm 72 -, dass Gott den Gebeugten im Volk Recht verschafft, den Kindern der Armen hilft und die Unterdrücker zermalmt (Ps 72,4). Gottes Treue ‚bewahrheitet’ sich darin, dass die Armen Gerechtigkeit erfahren und statt des Friedens „wie die Welt(ordnung) ihn gibt“ (14,27) der Friede Wirklichkeit wird, der von dem Gekreuzigten ausgeht, den Gott auferweckt hat (20,19.21).

Solche Wahrheit versteht Pilatus nicht. Als Militarist denkt er in den Kategorien von Macht und Unterdrückung. Deshalb ist dieser seltsame König für ihn eher ein frommer Spinner als eine Bedrohung des Imperiums. Für Pilatus wird die Sache brisant, als die Hohepriester darauf insistieren, dieser König habe „sich als Sohn Gottes ausgegeben“ (19,7). ‚Sohn Gottes’ ist ein Titel, den der Kaiser beansprucht. Wer auf einen solchen Titel zurückgreift, kann kein harmloser Phantast mehr sein. Er steht für eine Alternative zur römischen Weltordnung. Jetzt beginnt Pilatus zu verstehen: Es geht um die Frage der Loyalität gegenüber der römischen Weltmacht. Die duldet „keinen König außer dem Kaiser“ (19,15). Die Konsequenz ist Jesu Kreuzigung.

Jesu Tod am Kreuz aber ist nicht der Sieg des Imperiums, sondern der Sieg des Gekreuzigten über die römische Weltordnung. Johannes macht dies in der Todesszene deutlich. „Es ist vollbracht“ (19,30) ist Jesu letztes Wort. Vollbracht, d.h. an sein Ziel gekommen ist sein Weg sein Weg der Solidarität bis in den Tod. Genau davon hatte Jesus beim letzten Mahl gesprochen und im Zeichen der Fußwaschung sein Vermächtnis deutlich gemacht: Er ist solidarisch bis in den Tod. In dieser Solidarität sollen die Seinen bleiben. Allem Unrecht und aller Gewalt zum Trotz sollen sie an der Hoffnung festhalten, dass die Wahrheit von Israels Gott in seiner Treue zu diesem Gekreuzigten und zu allen Gekreuzigten Wirklichkeit wurde.

Am Ziel seines Weges angekommen gibt Jesus „seinen Geist auf“ (19,30). Genauer müssten wir übersetzen: „Er übergab seinen Geist.“ Der den Römern zur Kreuzigung übergebene Jesus übergibt seinen Geist der Solidarität bis in den Tod dem Vater. Genau daraus erwächst der Geist der Befreiung. Über ihn hat „der Herrscher der Weltordnung … keine Macht“ (14,30). Diesen Geist empfangen die JüngerInnen am Abend des Ostertages. Es ist der Geist, der aufstehen lässt gegen all die Herren, die „mit dem Tod uns regieren“ (Kurt Marti).

Die Wahrheit dieses Gekreuzigten muss ausgerechnet Pilatus der Welt verkünden: „Jesus von Nazaret, der König der Juden“. Diese Inschrift lässt Pilatus über Jesu Kreuz hängen – und das noch in allen wichtigen Sprachen. Gegen seinen Willen bekundet der Vertreter des Imperiums Jesu Wahrheit. Die Hoffnung auf Rettung, auf eine neue Welt verbindet sich nicht mit den Kronen der Mächtigen, sondern mit dem Angesicht dieses Gekreuzigten.

Herbert Böttcher