Joh 16,25 – 17,5
25 Dies habe ich in Bildreden zu euch gesagt; es kommt die Stunde, in der ich nicht mehr in Bildreden zu euch sprechen, sondern euch offen vom Vater künden werde. 26 An jenem Tag werdet ihr in meinem Namen bitten und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde; 27 denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt und weil ihr geglaubt habt, dass ich von Gott ausgegangen bin. 28 Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater. 29 Da sagten seine Jünger: Siehe, jetzt redest du offen und sprichst nicht mehr in Bildreden. 30 Jetzt wissen wir, dass du alles weißt und von niemandem gefragt zu werden brauchst. Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist. 31 Jesus erwiderte ihnen: Glaubt ihr jetzt? 32 Siehe, die Stunde kommt und sie ist schon da, in der ihr versprengt sein werdet, jeder in sein Haus, und mich alleinlassen werdet. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. 33 Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.
1 Dies sprach Jesus. Und er erhob seine Augen zum Himmel und sagte: Vater, die Stunde ist gekommen. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht! 2 Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. 3 Das aber ist das ewige Leben: dass sie dich, den einzigen wahren Gott, erkennen und den du gesandt hast, Jesus Christus. 4 Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. 5 Jetzt verherrliche du mich, Vater, bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war!
„Dies sprach Jesus…“ (17,1)
So leitet Johannes seine Darstellung von Jesu letztem Gebet ein. Er bezieht es auf die sog. Abschiedsreden (Joh 14 – 16), die Johannes Jesus in den Mund legt. Darin bereitet Jesus seine JüngerInnen darauf vor, dass er sie verlässt. Im Evangelium des Johannes sind damit diejenigen als AdressatInnen im Blick, die das Evangelium in der messianischen Gemeinde hören und lesen. Es geht um die Erfahrung vom Messias und von Israels Gott verlassen und der römischen Herrschaft ausgeliefert zu sein.
In ihrer Erfahrung verlassen zu sein, spricht Jesus den JüngerInnen bzw. der messianischen Gemeinde Mut zu. Er gehe nicht einfach weg, sondern zum Vater. Das tue er, um der Gemeinde eine „Wohnung“ zu bereiten (14,1ff), einen Ort, an dem sie auch unter der Herrschaft des Imperiums messianisch leben kann. Wenn er zum Vater geht, lässt er die Seinen „nicht als Waisen“ (14,18) zurück. Als „Beistand“ (14,26) wird der Vater den Geist senden. In der Kraft des Geistes bleibt der Messias präsent; denn der Geist „wird euch alles lehren und an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (14,27). Deshalb braucht die Gemeinde sich nicht zu beunruhigen und nicht zu verzagen (14,26), sondern kann in dem Frieden leben wie ihn der Messias gibt – im Unterschied zu dem Frieden wie ihn die Weltordnung als Ergebnis der Unterwerfung unter die römische Herrschaft gewährt (14,27).
So mit dem Messias verbunden kann die messianische Gemeinde in der Solidarität des Messias ‚bleiben‘. Niemand muss aus Angst vor Rom aus der Gemeinde fliehen (Joh 15). Die zur Gemeinde gehören, sollen auch dann bei der messianischen Gemeinde bleiben, wenn diese „aus der Synagoge“ ausgestoßen wird (16,2). In der Erfahrung, aus der Synagoge ausgestoßen zu werden, spiegelt sich die ‚Bedrängnis‘ durch die römische Unterdrückung. Um nach dem Krieg gegen die Juden (66-73 n. Chr.) jeden Aufstand im Keim zu ersticken, ging Rom mit aller Macht gegen Bewegungen vor, die mit einem messianischen Anspruch auftraten. Die Pharisäer, die sich als Leitungsinstanz unter den Juden herauskristallisierten, versuchten, nach der Zerstörung des Tempels und der Vertreibung der Juden aus Jerusalem, jüdisches Leben wieder neu aufzubauen. Insofern achteten sie darauf, die Tradition jüdischen Glaubens zu bewahren und das Leben in den Synagogen vor römischen Zugriffen zu schützen. Die aber drohten, wenn die Synagoge in den Verdacht geriet, gemeinsame Sache mit rebellischen MessianerInnen zu machen. Vor diesem Hintergrund ist der drohende Ausschluss aus der Synagoge zu sehen. Aus der Perspektive der MessianerInnen heißt Ausschluss: Sie verlieren den Schutz der Synagoge und werden noch mehr der Verfolgung durch das Imperium ausgesetzt. Diese Situation spiegelt sich am Ende der Abschiedsreden, auf die sich der Satz „Dies sprach Jesus“ (17,1) im unmittelbaren Zusammenhang bezieht.
„Es kommt die Stunde, in der ich … euch offen vom Vater künden werde“ (16,25)
Zunächst kommt die Stunde in den Blick, von der her alles offen verkündet wird: die Auferweckung des Gekreuzigten und darin seine Verherrlichung. „An jenem Tag“ (16,26) wird Jesu Weg zum Vater offen vor den JüngerInnen liegen. Ab diesem Tag werden sie ohne die fürbittende Solidarität des Messias leben können; denn „der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt … habt“ (16,27). Es fällt auf, dass Johannes an dieser Stelle nicht das übliche agapao mit dem Sinn von ‚solidarisch sein‘ verwendet, sondern phileo, das Liebe im Sinne einer Beziehung zwischen FreundInnen meint. Im Hintergrund könnte Ex 33,11 stehen, wo es heißt: „Der HERR und Mose redeten miteinander von Angesicht zu Angesicht, wie einer mit einem Freund spricht.“ Das Gespräch ist geprägt vom gegenseitigen Ansehen, also von Freundschaft, die im Gegensatz steht zu einem Verhältnis, das von ‚oben‘ und ‚unten‘ beherrscht ist, also von ‚Herabschauen‘ und ‚Aufschauen‘. Die freundschaftliche Beziehung hebt die Beziehung zwischen Herren und Knechten auf. Wenn die JüngerInnen sich in der Kraft des Geistes senden lassen (Joh 20,19ff) und tun, wozu sie gesandt sind, dann sind sie nicht mehr „Knechte“, sondern „Freunde“ des Messias, die wissen, was sie tun – wie Jesus in seinen Abschiedsreden im Vorgriff auf Ostern sagt (15,14f). Soweit ist es aber noch nicht. Der Osterjubel muss warten. In den Vordergrund rückt die Stunde des Abschieds und des Verlassens:
„Ich bin von meinem Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; und ich verlasse die Welt und gehe zum Vater“ (16,18)
Das Verlassen der Welt – genauer wäre zu übersetzen: das Hinter-sich-lassen der Weltordnung – ist Voraussetzung dafür, dass ‚gesehen‘ und offen vom Vater gesprochen werden kann, also ‚gesehen‘ und gesagt werden kann, dass sich Gottes Herrlichkeit, sein Gewicht, angesichts der Erniedrigung des Messias am Kreuz der Römer zeigen wird. Indem der Messias zum Vater geht, legt er zugleich den Charakter der Weltordnung offen, lässt offensichtlich werden, dass Gott mit der Auferweckung des Gekreuzigten das ‚letzte Wort‘ über die Weltordnung behält und sie richtet. Dann erst ist der Weg frei gemacht, auch nach dem ‚Weggang‘ des Messias zum Vater, unter der Weltordnung messianisch, also widerständig zu leben. Ihr ist der Anspruch genommen, ‚letztgültig‘ und ‚alternativlos‘ zu sein. Der als Paschalamm geschlachtete Messias nimmt „die Sünde der Welt(ordnung) hinweg“ (1,29), hebt ihre ‚Letztgültigkeit‘ auf. Dann können „die Sünden … erlassen“ (Joh 20,23) werden, während diejenigen sie behalten müssen, die immer noch nicht von der Weltordnung lassen können.
„Glaubt ihr jetzt?“ (16,31)
Die Jünger reagieren recht vollmundig, wähnen sich schon im Osterjubel, denken ‚positiv‘ und halluzinieren die Erfüllung ihrer Träume. Sie glauben verstanden zu haben und behaupten gegenüber Jesus: Wir „glauben …, dass du vom Vater ausgegangen bist“ (16,30). Darauf zielt Jesu kritische Rückfrage: „Glaubt ihr jetzt?“ im Sinne von: ‚Seid ihr jetzt schon zum Vertrauen auf den Weg des Messias und seine messianische Welt gekommen? Vor Hoffnungen und Träumen, die zu klein sind und zu kurz greifen, ist eine andere „Stunde“ zu bestehen:
„ … die Stunde, in der ihr versprengt sein werdet, jeder in sein Haus, und mich allein lassen werdet“ (16,32)
Die JüngerInnen versagen und lassen sich ‚versprengen‘. Sie vertrauen gerade nicht auf den Messias, sondern geben messianisches Leben auf und lassen den Messias allein. Das gilt auf der Erzählebene für die JüngerInnen und auf der Ebene der Hörerinnen und Hörer des Evangeliums im Blick auf diejenigen, die angesichts der Bedrohung durch Rom mit dem Messias und seinem solidarischen Weg zu einem messianischen Leben brechen. Hier wiederholt sich die Versprengung Israels durch den Krieg der Römer. Die messianische Gemeinde hat keinen Ort, keine ‚Wohnung‘ mehr in und unter der ‚Weltordnung‘. Dann aber hat auch Israels Gott unter ihnen keine ‚Wohnung‘ mehr, keinen Ort, wo er als das Fleisch gewordene Wort ‚zelten‘ kann (1,14). Jeder wird versprengt „in sein Haus“, wörtlich in sein Eigenes bzw. an den griechischen Wortgebrauch angelehnt: in seine eigene ‚Idiotie‘. Wenn jeder sich in sich selbst, in seinem Eigenen verbunkert, gibt es keine Solidarität und auch keine solidarisch-messianische Welt. Und dennoch ist Jesus „nicht allein“. Seine Solidarität mit den „Seinen“ (13,1) ist – so Johannes – von Gottes solidarischer Treue getragen, die sich als ‚Verherrlichung‘ Gottes und seines Messias an dem Punkt erweisen wird, an dem das Imperium scheinbar gesiegt hat.
„Dies habe ich zu euch gesagt…“ (16,33)
… damit ihr in mir Frieden habt“, fährt der Satz fort. Der Friede Christi ist aber ein anderer Friede als der Friede, den die Weltordnung gibt (14,27), ein Friede, in dem die Herr-Knecht-Beziehungen überwunden sind. Deshalb aber ist dieser Friede keine Idylle, sondern gerät mit dem Frieden, der ‚herrscht‘, wenn die römische Herrschaft gesichert ist, in Konflikt; deshalb gerät die messianische Gemeinde, wenn sie den Frieden des Messias sucht, in „Bedrängnis“. Dieses Wort, das in der Bibel immer wieder vorkommt, meint – erst recht vor seinem hebräischen Hintergrund – „‘eingeschnürt sein‘, ‚keinen Ausweg sehen‘“1. Es bekommt noch genauere Konturen, wenn wir es mit dem Buch Nehemia in Verbindung bringen. Es stammt aus einem ‚Bußgottesdienst‘ (Neh 9), in dem Leviten für das unter Fremdherrschaft leidende Volk vor Gott fürbittend eintreten. Am Ende des Gebets heißt es:
„Du hast unseren Vätern dieses Land gegeben, damit sie seine Früchte und seinen Reichtum genießen; wir aber leben darin als Knechte. Sein reicher Ertrag geht an die Könige, die du wegen unserer Sünden über uns gesetzt hast. Sie verfügen über uns selbst und unser Vieh nach Belieben. Darum sind wir in großer Not“ (Neh 9,36f).
Das hier reichlich blass mit ‚Not‘ übersetzte Wort entspricht dem ‚eingeschnürt sein‘ und ‚keinen Ausweg sehen‘. Im Blick auf die messianische Gemeinde verstanden: Sie ist unter der Herrschaft Roms ‚eingeschnürt‘ und ‚sieht keinen Ausweg‘. Und jetzt wird sie auch noch vom Messias verlassen. Demgegenüber steht Jesu Aufforderung:
„Aber habt Mut…“ (16,33)
Aufgegriffen ist eine Szene vor dem Durchzug der Israeliten durch das rote Meer. Sie sind von der Verfolgung durch die Ägypter ‚eingeschnürt‘ und ‚wissen‘ vor dem Meer stehend ‚keinen Ausweg‘ mehr. Da sagt Mose „zum Volk: Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der Herr euch heute rettet!“ (Ex 14,13). Wie Gott sein Volk aus der Einschnürung durch Ägypten befreit hat, so wird der Weg der Solidarität, den der Messias bis zum Ende, d.h. bei Johannes bis zu Vollendung geht, die Weltordnung besiegen. Deshalb die Aufforderung: „Aber habt Mut, ich habe die Welt(ordnung) besiegt“ (16,33).
„ … und er erhob seine Augen zum Himmel“ (17,1)
Der Himmel scheint für die JüngerInnen und Jünger verschlossen. Sie sind unter dem Druck des Imperiums versprengt, in ‚ihr Eigenes‘ und damit in die Irre gelaufen. Diese Erfahrung gibt es auch in der Gemeinde des Johannes. Wenn „die Stunde“ der Verfolgung kommt, verlassen einige die Gemeinde. Das ist ihre Reaktion auf „die Stunde“, die nun für den Messias kommt. In „der Stunde“, in der Rom auf ihn zugreift, erhebt der von allen verlassene Jesus „seine Augen zum Himmel“, zu jenem „Vater“, von dem er am Ende seiner Abschiedsreden gesagt hatte, dass er bei ihm sei (16,32). Jesus bittet um nicht weniger als ‚um Gott selbst‘: um die Verherrlichung seines Namens im Kreuz des Messias (17,1-5). Diese Verherrlichung ist zugleich die Befreiung der JüngerInnen aus dem ausweglosen Eingeschnürtsein, aus der „Bedrängnis“ durch die römische Weltherrschaft (16,33). In seiner Bitte ‚um Gott selbst‘ bittet Jesus darum, dass der Vater geschehen lasse, was sein Name beinhaltet und dies in der Verherrlichung seines Messias zur Geltung bringe, darauf sein ganzes Gewicht zu legen. Diese Verherrlichung schließt die Befreiung aus der ‚Bedrängnis‘ und die Bewahrung der Seinen ein, die – vom Messias verlassen – weiter unter der Weltordnung leben müssen. Sie mögen sich nicht ‚versprengen‘ lassen, sondern beim Messias, in seiner Solidarität, ‚bleiben‘ (17,6-11). So wie Jesus Zeit seinen Lebens die ‚Seinen‘ dadurch bewahrt, dass er sie lehrte am befreienden Wort des Vaters fest zu halten, so soll nun der Vater die messianische Gemeinde angesichts des Hasses und der Verfolgung bewahren, die von der Weltordnung ausgehen (17,12-17). In 17,18-21 kommen diejenigen in den Blick, zu denen die messianische Gemeinde gesandt ist. Jesus bittet nicht nur für die aktuelle messianische Gemeinde, sondern auch für diejenigen, die noch hinzukommen werden. Der Abschluss des Gebets greift noch einmal das Einssein zwischen dem Vater und Jesus im Geschehen der Befreiung auf. Genau darin – so bittet Jesus – sollen alle eins und solidarisch sein wie der Vater mit seinem Messias.
„Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche“ (17,1)
Diese Bitte ist die Überschrift über das ganze Gebet. Die Bitte um die Verherrlichung des Sohnes ist darauf gerichtet, dass Gott den Messias da verherrliche, wo alles Leben am Ende zu sein scheint, weil sich in der Hinrichtung der Gekreuzigten die Macht Roms verherrlicht, sich selbst ihr unanfechtbares Gewicht zu geben scheint. Wenn der Vater aber am Kreuz seinen Messias verherrlicht, durchbricht er die Macht Roms und beansprucht das ‚letzte Wort‘. Das Gewicht Gottes liegt ganz auf dem von Rom Hingerichteten. Der zweite Teil der Bitte – „damit der Sohn dich verherrlicht“ – nimmt die nachösterliche Gemeinde in den Blick. Gestärkt durch die Verherrlichung des Gekreuzigten durch Gott kann sie nun dem Sohn das Gewicht geben, das ihm gebührt, das Gewicht von Israels Gott, der sich in ihm als Befreier erwiesen hat. Indem die Gemeinde das bezeugt, verherrlicht der in der messianischen Gemeinde wirkende und sie in Solidarität einende Sohn den Vater.
„Denn du hast ihm die Macht über alle Menschen gegeben…“ (17,2)
Angemessener wäre mit „Macht über alles Fleisch“ zu übersetzen2. Dies entspricht sowohl dem griechischen Wortlaut als aus dem Zusammenhang des Evangeliums. Aufgegriffen wird der Prolog, in dem es heißt: „Das Wort ist Fleisch geworden … und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“ (1,14). ‚Fleisch‘ meint im hebräischen Sinn vor allem die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit allen Lebens (vgl. Jes 40,6ff, Jer 17,5ff). Über all dieses Leben ist dem Messias Macht gegeben. Gott so heißt es an anderen Stellen des Evangeliums – „hat alles in seine Hand gegeben“ (3,35; vgl auch 13,3). Für Johannes drückt sich darin Jesu Königtum aus, in dem Gottes Herrschaft ‚über alles Fleisch‘ zur Geltung kommt und wie es beim Einzug nach Jerusalem (12,13) und als Inschrift über dem Kreuz(19,19) proklamiert wird.
Diesem Erniedrigten hat Gott die „Macht über jedes Fleisch“, über Israel und die Völker, über alles, was Gott erschaffen hat, in die Hände gelegt. Deshalb kann er „allem“ – wie die Pattloch-Bibel genau übersetzt (17,2) schenken. Dies wird deutlich in der Erniedrigung des Messias am Kreuz der Römer, deren Macht Gott sein Leben schaffendes Wort als ‚letztes Wort‘ entgegenstellt, das „ewiges Leben“ schafft. „Ewiges Leben“ ist bei Johannes nicht einfach das Leben jenseits der Zeit, sondern zugleich eine kommende Zeit, eine kommende neue Welt, in der „alles Fleisch“ neu aufleben kann. Es ist ein Leben, das ‚bleibt‘ und durch keine Macht der Welt mehr vernichtet werden kann.
Im Hintergrund steht wieder die Vorstellung vom Menschensohn aus dem Buch Daniel (7,14). Er tritt vom Himmel her den im Bild von Bestien dargestellten Systemen der Herrschaft entgegen, die Israel und die Völker drangsalierenden. Ihm wird Gottes Königtum anvertraut: „Ihm – so heißt es bei Daniel – „wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. … Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter“ (Dan 7,14). Dass dem gekreuzigten Menschensohn „Macht über alles Fleisch gegeben ist, zeigt sich in der Auferweckung des Gekreuzigten. Darin verehrlicht Gott seinen Namen. Genau darum hatte Jesus in der Nacht des Verrats bereits einmal gebetet, als seine Seele angesichts „der Stunde“, die nun da war, erschüttert wurde: „Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!“ (Joh 12,27f).
Dadurch, dass der Vater in dieser Stunde seinen Namen in diesem von Rom Gekreuzigten verherrlicht, diesem ‚die Ehre‘ seines Namens gibt, „wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher der Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“ (12,31f). Die „Stunde“ steht dafür, dass Jesus einen Auftrag erfüllt, seiner Sendung bis zur letzten Konsequenz, bis zur ‚Vollendung‘ treu bleibt. Darin gibt er Israels Gott die Ehre. Und die Ehre Gottes ist das befreite Israel, Gottes Gericht und Sieg über die Weltordnung der Versklavung Israels und der Völker.
„Das aber ist das ewige Leben: dass sie dich den einzigen wahren Gott erkennen und den du gesandt hast, Jesus Christus“ (17,3)
‚Ewiges Leben‘ als Leben einer neuen kommenden Welt wird möglich, wenn Israels Gott der Befreiung erkannt und anerkannt wird und Götzen als Legitimation und Verherrlichung von Herrschaft ebenso wenig geduldet werden wie Fetischverhältnisse, die sich als ‚abstrakte Herrschaft‘, als alternativlos und Sachzwängen geschuldet in Szene setzen. Das Leben lässt sich nicht systemtheoretisch in einzelne autonome, sich selbst erschaffende Systeme aufspalten, zu denen jeweils ein eigener Götze Zugang verschafft wie der Götze Geld zum System Wirtschaft, der Götze Macht zum System Politik, der Götze ‚höheres Wesen‘ zwecks Bewältigung der Endlichkeit zum System Religion. Israels Gott muss in allen Bereich des Lebens, ‚in allem Fleisch‘ als Befreier zur Geltung kommen.
Die Erkenntnis Gottes als des „einzigen und wahren Gottes“ ist nicht zu trennen von der Gerechtigkeit für die Schwachen und Armen. Jeremia zitiert als „Spruch des Herrn“ über einen König, der als gerecht galt: „Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Das war gut. Heißt das nicht mich zu erkennen?“ (Jer 22,16). Vor diesem Hintergrund verbindet Johannes die Erkenntnis Gottes mit der Erkenntnis des gekreuzigten Messias. Wird Gott hier erkannt, dann sind die Erniedrigten angesehen, die in der Geschichte Leidenden als Autorität eingesetzt. Ob ihnen Gerechtigkeit widerfährt, ob Herrschaft überwunden wird, ist das entscheidende Kriterium für das Zusammenleben in Gottes Schöpfung.
Problematisch, weil antijudaistisch, wird es, wenn die Erkenntnis Gottes im Messias Jesus exklusiv, also andere ausschließend, verstanden wird. Das hat zu der absurden Konsequenz geführt, dass Juden die ‚wahre‘ Gotteserkenntnis abgesprochen wurde. Demgegenüber ist mit dem Exegeten Klaus Wengst „festzuhalten, dass Gott schon vor Jesus ‚in der Gestalt Israels‘ erkennbar war – und es bleibt“3. Für die messianischen Gemeinden stellte sich nicht die Frage nach einem unbekannten Gott, sondern danach, wo Israels Gott nach der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung Israels ‚präsent‘ ist, wo er – wie Johannes immer wieder variierend sagt – ‚wohnt‘, ‚zeltet‘, ‚bleibt‘. Israels Gott – so das Evangelium – ist in seinem gekreuzigten Messias präsent, in seinen Wegen der Treue und der Solidarität. Er hat Jesus aus der Macht Roms gerettet und damit Israel und der Welt einen Befreier geschenkt. Der Messias und sein Geschick stehen nicht für einen anderen Gott, sondern für Israels Gott, dessen Name ‚Befreiung‘ ist. Johannes geht es also um keinen anderen Gott als den Gott Israels. Gestritten wird nicht um den Glauben an unterschiedliche Götter, sondern darum, ob Israels Gott, an den auch die messianische Gemeinde glaubt, im Messias Jesus so präsent ist, wie Johannes es versteht. Sobald diese Erkenntnis Gottes exklusiv formuliert (also: nur in Jesus ist Israels Gott präsent) und dabei gegen Israel gewendet wird, schlägt sie in ‚Antijudaismus‘ um und pervertiert sich selbst.
„Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und dein Werk zu Ende geführt…“ (17,4)
Jesus blickt vor Gott auf sein Leben zurück. In allem, was er getan hat, hat er Israels Gott die Ehre, ihm Gewicht gegeben, ihn also ‚verherrlicht‘. Darin hat Jesus – wie er im Vorgriff auf seinen Tod sagt – sein Werk, das mit der Schöpfung begonnen hat (Joh 1), zu Ende geführt, es am Kreuz vollendet und sein Leben dem Vater übergeben (Joh 19,30). Er hat sein Werk getan in Solidarität mit Israel und in Treue zu ihm und dem Auftrag, den er von ihm bekommen hat. Jetzt bleibt ‚nur‘ noch die Bitte:
„Jetzt verherrliche du mich, Vater… (17,5)
„Jeschua bittet Gott darum, dass aus diesem Kreuz Ehre, aus der Niederlage Sieg werde: ‚Ehre mich, damit ich nicht der Gescheiterte bleibe, der ich für die meisten Menschen bin!“4 Nur dann, wenn diese Bitte erfüllt wird, lässt sich darauf vertrauen, dass Israels Gott der Befreiung in diesem Gekreuzigten zum Zuge kam, und hoffen, dass sein Rom richtendes (Joh 12,31) und die Welt rettendes (3,17) Wort Bestand haben kann und sich als wahr erweisen wird. Insofern hängt an der Rettung des Messias die Rettung, die Befreiung der Welt.
… mit der Herrlichkeit, die ich hatte, bevor die Welt war!“ (17,5)
Veerkamp wehrt sich dagegen, diesen Satz metaphysisch-überzeitlich und vom Glauben an Jesu Präexistenz vor der Schöpfung her zu verstehen5. Er interpretiert ‚bevor‘ als vorrangig, „und zwar vorrangig vor allem Machtgehabe der Weltordnung, bevor diese Ordnung ‚geschieht‘, ihre Wirkung entfaltet“6. Nun ist nicht zu verhehlen, dass diese Interpretation als gesellschaftskritische Lesart ausgesprochen ‚sympathisch‘ ist. Es könnte aber auch sein, dass eine antimetaphysische und antiorthodoxe Aversion in diesem Zusammenhang den Blick auf den Text versperrt.
Die Formulierung „bevor die Welt war“ muss nicht vom griechischen Seinsdenken, dem Johannes fern ist, her verstanden werden. Ein Verständnis ist auch von jüdischen Zusammenhängen her denkbar. Als der Erschaffung der Welt voraus liegend können in der jüdischen Tradition auch Israel als Ganzes und der Tempel gedacht werden7. Der Tempel steht für die Gegenwart Gottes in seinem Volk. Der liegt aber zur Zeit des Johannes in Schutt und Asche. Johannes versteht Jesus als Tempel Gottes (Joh 2,20), als Fleisch gewordene Wohnung des Wortes Gottes in seinem Volk (1,14). Von daher ist der Bezug auf eine Existenz vor der Schöpfung durchaus naheliegend. Im Zusammenhang des Johannesevangeliums ist es plausibel die Formulierung „bevor die Welt war“ so zu verstehen, dass Jesus von Gott ausgegangen ist und als Wort schon vor der Schöpfung bei Gott war (Joh 1,1). Dann würde Johannes in 17,5 auf 1,1 zurückgreifen. Ein solches Verständnis wäre Ausdruck dafür, dass Gott für das Ganze steht, dafür, dass sich der Gottesname nicht positivistisch in eine geschlossene Immanenz einschließen lässt – weder in die Immanenz geschichtlicher Herrschaft noch in die Immanenz der Geschichte als Ganzer, sondern mit einer Hoffnung verbunden ist, die auch an die Toten rührt, für die in einem positivistischen Denken das endgültige Urteil schon gesprochen ist. Nur dann wäre der Gedanke wahr, dass dem Messias als dem Menschensohn „Macht über alles Fleisch“ gegeben ist.
Herbert Böttcher
1Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Texte & Kontexte, Sonderheft Nr. 3, Berlin 2015, 122,
2 So steht es auch in Heinz Peter V. alter Pattloch-Bibel.
3Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart 2019, 466.
4Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Johannes 13-17, Texte & Kontexte. Exegetische Zeitschrift Nr. 95/96 25, Jahrgang 3-4, Berlin 2002, 77.
5Vgl. Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums II. Teil: Johannes 10,33-21,25, Texte & Kontexte, Nr. 113-117, 30. Jahrgang 1-3, Berlin 2007.
6Veerkamp Abschied des Messias 2002 (s. Anm. 4).
7Vgl. Wengst, 467) (s. Anm. 3).