Joh 17,12-17
12 Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllte. 13 Aber jetzt komme ich zu dir und rede dies noch in der Welt, damit sie meine Freude in Fülle in sich haben. 14 Ich habe ihnen dein Wort gegeben und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. 15 Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. 16 Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. 17 Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit.
Bei nicht so genauem Lesen von Jesu Gebet mag sich der Eindruck einstellen, es gehe immer wieder um dasselbe. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, wie verschiedene Fäden des Evangeliums und der in ihm immer präsenten jüdischen Bibel aufgegriffen und zu einem ‚Text(il)‘ verknüpft werden. Im ersten Vers unseres kurzen Textes blickt der betende Jesus auf sein Leben zurück (V. 12). Mit den Worten „Jetzt aber“ (V. 13) kommt die Situation in den Blick, in der sich diejenigen befinden, für die Jesus bittet: die Verlassenheit vom Messias und der Hass der Welt(ordnung) (V. 13f). Diese Situation mündet in die Bitte, die messianische Gemeinde, die in der Welt(ordnung) bleibt, vor dem Bösen zu bewahren (V. 16) und sie in der Wahrheit zu heiligen (V. 17).
„Solange ich bei ihnen war…“ (V. 12)
Jesus blickt auf sein Leben zurück und macht deutlich, worum es ihm dabei ging: die Bewahrung der ihm Anvertrauten im Namen von Israels Gott, der die Schreie der Versklavten hört und auf den Wegen der Befreiung bei seinem Volk sein will (Ex 3,7ff). Darin hat er als der ‚gute Hirte‘ (vgl. Joh 10) diejenigen ‚bewahrt‘ und ‚behütet‘, geschützt und ‚bewacht‘, die Gott ihm „gegeben“ hat. Zu bewahren und zu behüten ist Israel als Gottes Eigentum. Es wird repräsentiert in den Jüngerinnen und Jüngern. Das Bewahren und Behüten im Namen Gottes geht einher mit dem Bewahren und Behüten in den Schriften Israels, in denen die Offenbarung des Namens ‚buchstabiert‘ wird. Dabei ging keiner verloren – „außer dem Sohn des Verderbens“. Auf der Erzählebene des Evangeliums war Judas nach dem Mahl mit der Fußwaschung (13,1ff) hinaus gegangen in die Nacht (13,30), um den Messias zu verraten. Er steht dabei für diejenigen, die nach dem Verlassen der messianischen Gemeinde mit Rom gemeinsame Sache gegen die Gemeinde machen. Diese Erfahrung deutet Johannes im Zusammenhang der Schrift (vgl. 13,18f) und macht deutlich, dass solche Erfahrungen der Erfüllung der Verheißungen der Befreiung nicht im Wege stehen können, sondern ‚letztlich‘ ihrer Erfüllung dienen.
Wie sehr es in der messianischen Gemeinde ‚rumorte‘, haben die Auseinandersetzungen um Jesu Brotrede in Kafarnaum bereits deutlich gemacht. Hier tauchte schon die Frage auf: ‚Gehen‘ und die messianische Gemeinde verlassen (6,67) oder doch bleiben? Obwohl Petrus sich für die Jüngerinnen und Jünger zum ‚Bleiben‘ bekennt, ist der Verrat nicht ausgeschlossen. Einer von den Zwölf ist „ein Teufel“ (6,70), der mit Roms teuflischer Herrschaft kooperiert und Jesus „ausliefern“ wird (6,71). Die anderen sind zwar nicht ins ‚Verderben‘ gerannt, sondern haben sich ‚nur‘ in ihr ‚Eigenes‘ versprengt und Jesus allein gelassen. Sie werden aber über den Weg des Messias in Kreuz und Auferweckung bewahrt.
„Aber jetzt komme ich zu dir…“ (V. 13)
Jetzt ist die Stunde, in der der Messias, der von Gott gekommen ist, in die Verborgenheit Gottes zurückkehrt und die messianische Gemeinde sich als vom Messias verlassen erfährt. Es wird eine Stunde sein, in der die Gemeinde „weinen und klagen“ und die „Welt sich freuen“ wird. Das aber wird nicht das ‚letzte Wort‘ sein; denn die „Trauer wird sich in Freude verwandeln“ (16,20). Johannes verweist auf die gebärende Frau, bei der der Schmerz der Geburt in Freude über das neugeborene Leben übergeht. Die gebärende Frau ist ein Bild für Israel, das mit der Auferweckung des Messias neu geboren und aus den Trümmern des Krieges und der Versprengung seiner Kinder neu aufgerichtet werden soll. „Die Kinderlose lässt er wohnen im Haus als frohe Mutter von Kindern“ (Ps 113,9). Wenn dies geschieht, wird die „Freude vollkommen“ (16,23) sein. Nicht auf Freude ‚an sich‘, auf diffusen Optimismus und ‚natürliche‘ Lebensfreude, sondern auf diese „Freude in Fülle“ zielt das Beten Jesu und seine Rückkehr in die Verborgenheit Gottes über den Weg von Kreuz und Auferweckung.
… die Welt hat sie gehasst… (V. 14)
Die „vollkommene Freude“, die der messianischen Gemeinde versprochen ist, bleibt dem Hass der Weltordnung ausgesetzt. Das kann auch nicht anders sein; denn Gottes Wort der Befreiung, das der Messias den ‚Seinen‘ gegeben hat, ist nicht von der Weltordnung, wie auch der Messias nicht von der Weltordnung ist. Er redet und handelt nicht in ‚Geist und Logik‘ der Weltordnung, sondern widerspricht und widersteht ihr. Israels Gott der Befreiung, seine Wahrheit, steht gegen die ‚Wahrheit‘ einer fetischisierten Weltordnung, in der Wahrheit in Lüge, Befreiung in Unterdrückung, Gott in Götzen verkehrt werden. Und „wer an Götzen rührt“, muss sterben. So hat es der Befreiungstheologe Jon Sobrino in Erinnerung an die Ermordung Oscar Romeros (1980) und der Jesuiten in San Salvador (1989) formuliert1. Diese Frage nach Jesu Verhältnis zur Welt(ordnung) und zur Wahrheit wird erneut vor Pilatus verhandelt werden (19,33ff).
Die immer wieder gepriesene religiöse Toleranz des römischen Imperiums bezieht sich auf Religionen, die nicht im Widerspruch zur Weltordnung stehen, sondern helfen, in und mit der Weltordnung zu leben. „Rom hat sie ja auch sehr gerne gehabt, diese ganz Welt von Religionen und Mysterien, die den Menschen einen Ort in einem Himmelchen versprechen. Obwohl das Ganze den konservativen Patriziern eine Nummer zu bunt war, haben sie die Mysterienwelt des Ostens nicht bekämpft, weil sie keine ernstzunehmende Widerrede, eher ein stabilisierender Faktor im immer zur Rebellion neigenden Osten war.“2
„Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst…“ (V. 15-16)
Jesus kann nicht darum bitten, die Jüngerinnen und Jünger aus der Welt zu nehmen, weil sie in der Weltordnung Zeugnis geben sollen von der Befreiung, die mit dem Namen Gottes und dem Wirken des Messias untrennbar verbunden ist. Israels Gott will nicht ‚jenseits‘, sondern inmitten der Weltordnung, inmitten von Herrschaftsverhältnissen, die in Unrecht und Gewalt gründen, geschehen – und zwar durch richtenden Widerspruch. Genau das wiederum ist das Zeugnis, zu dem Israel berufen ist. Verwurzelt in diesem Zeugnis steht der Messias im Widerspruch zur römischen Weltordnung. Inhalt seiner Bitte kann daher nur sein: „dass du sie vor dem Bösen bewahrst“ (V. 15). Die Bewahrung vor dem Bösen ist die Bewahrung davor, sich mit der ‚Weltordnung‘ gemein zu machen, mit ihr ‚konform‘ zu gehen bis zur Kooperation durch Verrat. Weil die Wahrheit der Befreiung für diejenigen, die zur messianischen Gemeinde gehören und in der Weltordnung für sie einstehen sollen, mit der ‚Wahrheit‘ der Weltordnung nicht in Einklang zu bringen ist, „sind sie nicht von der Welt wie auch ich nicht von der Welt bin“ (V. 16). Deshalb – so sagt Jesus – „hat die Welt mich schon vor euch gehasst“ (15,18). Die Weltordnung liebt als ihre Freunde diejenigen, die aus ihr stammen, als „ihr Eigentum“ (15,19), wörtlich als die, die ‚ihr eigen‘ sind. Die messianische Gemeinde aber ist „aus der Welt erwählt“ (ebd.). Darum ist der Hass einer Weltordnung der Unterdrückung und Gewalt auf Befreiung und Befreier/innen unausweichlich.
„Heilige sie in der Wahrheit…“ (V. 17)
‚Heiligkeit‘ steht nicht außerhalb der Welt, sondern bewährt sich inmitten der Weltordnung und ihrem Hass – und wird darin bewahrt. Die Bitte um Heiligung ist gleichsam die positive Seite der Bitte um Bewahrung „vor dem Bösen“ (V. 15). Die Geheiligten sind erwählt, Gottes Eigentum zu sein. Sie gehören zu Gottes ‚Eigenem‘, zu dem ihm ‚eigenen‘ Namen. Von ihm sind sie zum Zeugnis ‚beansprucht‘ und lassen sich ‚beanspruchen‘. Das gilt für Israel zuerst und für immer. Es ist und bleibt als Gottes Volk sein Eigentum:
„Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Königtum von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“ (Ex 19,6).
Diese Berufung zur Heiligkeit gründet in der Befreiung aus Ägypten. Darin hat Gott sein ‚heiliges Volk‘ geschaffen. Es soll heilig sein wie Gott selbst heilig ist. Diese Heiligkeit erweist sich in der Trennung von Ägypten (Lev 11,44ff). Durch die Befreiung trennt Gott sein Volk von Ägypten. In dieser Trennung soll es sich als befreites Volk bewähren, indem es diese Trennung von Macht und Herrschaft und darin von ihren Götzen bewahrt. Es soll nicht wieder zur „bösen Gemeinde“ (Num 15,27) werden, die zurück will nach Ägypten. Deshalb gilt es – wie Johannes in seinem Evangelium immer wieder einschärft – die Gebote der Tora zu ‚bewahren‘. Sie müssen so bewahrt und bewährt werden, dass sie angesichts der Erfahrung von Unterdrückung und Gewalt in fetischisierten Herrschaftszusammenhängen immer wieder neu ‚buchstabiert‘ werden, statt das Gesetz antijudaistisch gegen eine idealistische ‚Freiheit des Evangeliums‘ auszuspielen, die sich nicht mehr oder nur noch in ein allgemeines Verhältnis zur realen Herrschaft, die Menschen erleiden und an der sie sterben, setzen kann. Die Folge ist dann doch wieder ein Verhältnis zu den realen Herrschaftsverhältnissen, nämlich ein ‚stillschweigendes‘ Einverständnis, das jederzeit in Kooperation und offene Legitimation umschlagen kann. Dies war in der Geschichte oft dann der Fall, wenn die Kirche glaubte,, an der Seite der Macht ihren Einfluss am ehesten sichern zu können. Aber nur in der kritischen Auseinandersetzung mit realen Herrschaftsverhältnissen in der Geschichte kann sich Gottes Gerechtigkeit zur Geltung bringen und sich sein Wort als wahr erweisen so wie es der Psalm 119 formuliert:
„Deine Gerechtigkeit ist auf ewig Gerechtigkeit und deine Weisung ist Treue“ (V. 142) bzw.:
„Das Wesen deines Wortes ist Treue, jeder Entscheid deiner Gerechtigkeit hat Bestand auf ewig“ (V. 160).
„… die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32)
Die Wahrheit, die befreien wird, ist eine Wahrheit, die sich weigert, in Erfüllung der Gesetze der Weltordnung zu töten. In Erfüllung dieser Gesetze soll Jesus getötet werden. Denjenigen, die dies betreiben, hält Jesus entgegen: „So hat Abraham nicht gehandelt“ (8,40). Dieser Einwand setzt voraus, dass Abraham seinen Sohn Isaak nicht getötet hat, sondern sich einem kulturellen Gesetz widersetzt hat, das verlangte, die Erstgeburt zu töten3. Wer im Namen der Weltordnung tötet, hat „den Teufel zum Vater“. Der „war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit … , sondern ist ein Lügner und … der Vater der Lüge“ (8,44). Er steht für den Götzendienst bzw. für fetischisierte, verkehrte gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Wahrheit in Lüge verkehrt wird.
Die herrschende Theologie ist dafür anfällig, sich an der Verkehrung von Wahrheit in Lüge zu beteiligen, solange sie meint, ihre Wahrheit als eine allgemeine Wahrheit in allgemeinen Begriffen formulieren zu können, die unabhängig von den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen gewonnen werden und Geltung beanspruchen kann. Dann wird der geschichtliche Gegensatz von Tod und Leben in einen metaphysischen Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit verkehrt. Davon ist „unsere gesamte theologische Tradition zutiefst geprägt“4. In dieser Tradition wird unterschieden zwischen metaphysisch allgemein, also immer und unabhängig von geschichtlichen Konstellationen Gültigem, und weltlich Endlichem. Wahrheit wird zu einer allgemeinen Wahrheit, einer von der Geschichte ungetrübten ‚reinen‘ Lehre, die es ‚rein‘ zu ‚bewahren‘ gilt. Eine geistliche Wahrheit steht als ‚eigentliche‘ Wahrheit aller weltlichen Wahrheit gegenüber. So kommt es zu einem Dualismus von Geistlichem und Weltlichem, von Gott und Welt. Dabei kommt auch der Begriff der Welt nicht über einen Allgemeinbegriff wie der Welt ‚an sich‘ hinaus. Dann kann auch der Konflikt mit der ‚Welt‘, von dem Johannes erzählt, nicht als Konflikt mit der römischen Weltordnung wahrgenommen werden. Er wird zu einem Konflikt mit ‚der Welt an sich‘. Solch scheinbar zeitunempfindliches metaphysisches Denken ist aber keineswegs so zeitlos, wie es sich gibt. Versteckt oder – wenn es sein muss – auch offen steht es im Einklang mit der Welt wie sie ist, mit den jeweils geltenden Herrschaftsverhältnissen. Wenn die Theologien der Befreiung von Gott nicht in vermeintlich zeitlosen metaphysischen Begriffen oder in idealistischen Allgemeinbegriffen sprechen, ziehen sie, wie etwa bei Joseph Ratzinger, den Verdacht auf sich, ‚den‘ Menschen auf Ökonomie, Politik oder was auch immer zu reduzieren. Und vor allem: „Das eigentliche und tiefste Problem der Befreiungstheologien sehe ich in dem faktischen Ausfall des Gottesgedankens“5.
Ratzingers Liebe zu einer scheinbaren weltlosen und reinen metaphysische Wahrheit verbindet sich – konform mit der kapitalistischen Weltordnung – mit dem Hass auf die Theologien der Befreiung, die dieser Weltordnung als Weltordnung des Todes zu widerstehen suchen. Der gemeinsam mit Johannes Paul II. geführte Kampf gegen die Theologien der Befreiung und ihre kirchliche Verwurzelung war keineswegs ein harmloser ideologischer Kampf um eine ‚reine‘ Lehre, sondern ein militanter machtpolitischer Kampf. Er schreckte nicht davor zurück, den Menschen, die sich in messianischen Basisgemeinden zusammenfanden, und denen, die sie als pastorale Mitarbeiter/innen, Theolog/innen und Bischöfe begleiteten, die kirchlicher Legitimation und damit den Schutz vor Verfolgung und Tod zu entziehen. ‚Geheiligt‘ wurde die Weltordnung, ihre Lügen verherrlicht und den Lügen der Weltordnung die Lügen über die Theologien der Befreiung hinzugefügt.
Herbert Böttcher
1Jon Sobrino, Sterben muß, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Jesuiten in San Salvador: Fakten und Überlegungen, Fribourg/Brig 1990.
2Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, II. Teil: Johannes 10,22-21,25, Texte & Kontexte, Exegetische Zeitschrift Nr. 113-115, 30. Jahrgang, Berlin 2007, 76f.
3Franz Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung, Luzern 2001, 63ff; vgl. dazu Herbert Böttcher, Wer im Namen des Gesetzes tötet, kann nicht zu den Kindern Abrahams gehören, in: pax christi – Kommission Weltwirtschaft (Hg.), Der Gott Kapital. Anstöße zu einer Religions- und Kulturkritik, Münster 2006, 75-85.
4Pablo Richard, Die Theologie in der Theologie der Befreiung, in: Ignacio Ellacuria, Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Luzern 1995, 189-212, 189.
5Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem einleitenden Essay, München 8/2006.