„Und das Wort ist Fleisch geworden…“ (Joh 1,14). Zum Evangelium vom ersten Weihnachtstag

Joh 1,1-18

1 Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. 2 Dieses war im Anfang bei Gott. 3 Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. 4 In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst. 6 Ein Mensch trat auf, von Gott gesandt; sein Name war Johannes. 7 Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. 8 Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht. 9 Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. 10 Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. 11 Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. 12 Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, 13 die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind. 14 Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. 15 Johannes legt Zeugnis für ihn ab und ruft: Dieser war es, über den ich gesagt habe: Er, der nach mir kommt, ist mir voraus, weil er vor mir war. 16 Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade. 17 Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus. 18 Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.

Ein Pro-log als Vor-Wort

Als Evangelium wird im Festgottesdienst zum ersten Weihnachtsfeiertag der sog. Prolog des Evangeliums nach Johannes gelesen. Pro-log meint wörtlich ‚Vor-Rede‘ oder auch ‚Vor-Wort‘. Ein solches Vorwort greift auf das Ganze eines Textes voraus. Es steckt den Horizont ab, in dem das, was gesagt bzw. geschrieben wird, verstanden werden soll. Mit seinem Prolog macht Johannes deutlich, in welcher Perspektive die Erzählung von Jesu Wirken, seinem Tod und seiner Auferstehung verstanden werden soll.

Im Anfang war das Wort…“ (1-5)1

Johannes stellt Jesus in den Zusammenhang seiner Bibel. Und die beginnt mit: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“ (Gen 1,1). Er schuf sie durch sein Wort. ‚Er sprach und es geschah‘ zieht sich als Struktur durch den Lobgesang auf die Erschaffung der Welt und allen Lebens. Das erste Werk, das Gott durch sein Wort schafft, ist das Licht (Gen 1,3-5). Johannes deutet das Licht auf das durch Gottes Wort geschaffene Leben, wenn er sagt: „In ihm (d.h. dem Wort) war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,4f). Damit deutet er bereits an, dass er von dem Licht erzählen wird, das der Messias Jesus ist, der von sich sagt: „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt“ (Joh 12,46). Das Licht des Messias leuchtet hinein in die Finsternis einer Welt, die unter der Herrschaft Roms zu leiden hat. In diese Finsternis hinein spricht Gott sein Wort des Lebens als Wort der Befreiung von dem Unrecht und der Gewalt, die das römische Imperium über die Erde verbreitet. Es ist das Licht eines neu aufbrechenden Lebens inmitten der Finsternis. Johannes deutet aber auch schon an, dass die Finsternis, dieses Licht nicht erfassen wird. Sie wird es nicht als Licht der Befreiung begreifen, aber es ergreifen, um es hinzurichten.

Der Macht Roms zum Trotz stellt Johannes Jesus in den Horizont der Schöpfung des Lebens und damit der Bibel ‚in ihrem Anfang‘. Was von Jesus zu erzählen ist, kommt von Israels Gott. In ihm hat es seinen ‚Ursprung‘, seine Quelle; in ihm ist es verwurzelt; in ihm leuchtet das Licht der Befreiung neu auf, die Gott seinem Volk geschenkt hat. Im Horizont der Schöpfung und ihres schöpferischen Lichts geht es in der Erzählung um eine neue Schöpfung. Was ‚im Anfang‘ verwurzelt ist, setzt neu ein und schafft Neues, das auch Rom nicht auslöschen kann. Es setzt neu ein mit dem Messias Jesus und schafft Neues: die messianische Gemeinde.

Ein Mensch trat auf…“ (6-8)

Mit dem Auftreten des Täufers Johannes beginnt das, was Johannes zu erzählen hat – im Prolog wie mit dem Beginn des Erzählfadens (1,19ff). Wörtlich übersetzt heißt es: „Es geschah…“ Mit dem Auftreten des Täufers beginnt Gottes Wort neu zu geschehen. Der Evangelist macht aber deutlich, dass der Täufer Johannes selbst nicht das Licht, sondern sein Zeuge ist. Sein Zeugnis verweist auf das Licht, das der Messias ist. Es zielt darauf ab, dass „alle durch ihn zum Glauben kommen“ (1,7). Alle sollen darauf vertrauen, dass der Messias das Licht ist, das die Finsternis des römischen Imperiums überwindet.

Das wahre Licht…“ (9-13)

Der Messias, den der Täufer Johannes bezeugt, ist das wahre Licht. Obwohl der Evangelist noch nicht ausdrücklich vom Messias Jesus gesprochen hat, ist in den folgenden Versen die Geschichte seines Lebens gegenwärtig. „Er war in der Welt …, aber die Welt erkannte ihn nicht“ (V. 10). Jesus wurde von der ‚Welt‘ nicht erkannt, sogar abgelehnt. ‚Welt‘ meint kein überzeitliches Abstraktum. Es geht also nicht um einen abstrakten Gegensatz zwischen ‚der‘ Welt und den Glaubenden etwa in dem Sinne, dass die ‚Welt‘ immer den Glauben ablehnen werde. Mit Welt kann bei Johannes mehrfaches gemeint sein: sie kann Welt als Schöpfung Gottes, aber auch die Herrschafts‘ordnung‘ der römischen Welt sein, mit der Teile der jüdischen Welt, die führenden Schichten, paktieren. Die Welt als Schöpfung Gottes ist gemeint, wenn Johannes sagt: „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab…“ (3,16). In diese Welt kam der Messias. Es ist die Welt, von der es im Prolog heißt, sie sei „durch ihn“ (d.h. den Messias) geworden; denn das Wort, das mit ihm „in der Welt“ war, ist jenes schöpferische Wort, das Gott „im Anfang“ gesprochen hat und durch das alles geworden ist und in dem der Messias schon „bei Gott“ war (vgl. Joh 1,1f). Israels Gott und sein Messias(,) sind von Anfang an so miteinander verbunden, dass Jesus sagen kann: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30)2.

Von der ‚Welt‘, in die Jesus gesandt ist und die durch ihn als Wort geworden ist, heißt es: Sie „erkannte ihn nicht“. Hier kommt die römische Welt in den Blick. Von ihr wird Johannes erzählen, was das Nicht-Erkennen heißt: Im Namen der römischen Weltordnung wurde der Messias hingerichtet. Das Licht der Befreiung kam aber nicht nur in die römische Weltordnung, sondern auch „in sein Eigentum“ (V. 11). Gottes und des Messias „Eigentum“ ist Israel. In der Befreiung aus Ägypten hat Gott sich dieses Volk ‚zu eigen‘ gemacht und ihm verheißen, es auf seinem Weg durch die Geschichte als Retter und Befreier zu begleiten. Aber auch in seinem „Eigentum“ wurde der Messias nicht aufgenommen, sondern in Kooperation der führenden Schichten mit der Weltordnung ans Kreuz gehängt.

„… Kinder Gottes … aus Gott geboren …“ (V. 13)

Und dennoch gab es diejenigen, „die ihn aufnahmen“, die messianische Gemeinde. Ihnen „gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (V. 12). Das klingt ebenso vertraut wie harmlos. Die Brisanz wird aber deutlich, wenn wir die Formulierung aus V. 13 beachten. Dort werden die „Kinder Gottes“ als solche bestimmt, die „aus Gott geboren sind“. Wer zum Reich Gottes gehören will, kann nicht mehr ein Kind der römischen Weltordnung sein. Er muss „von oben geboren“ werden; denn so erklärt Jesus im nächtlichen, d.h. geheimen Gespräch dem Nikodemus: „Wenn jemand nicht von oben geboren ist, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Wer nicht auf dem Weg der Befreiung durch die Wasser des roten Meeres gegangen ist, wer nicht geprägt ist von Gottes Geist der Befreiung, also wer „nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren ist“, sondern Fleisch vom Fleisch des Imperiums, „kann nicht in das Reich Gottes kommen“ wie Jesus im weiteren Verlauf des Gesprächs noch einmal unterstreicht (Joh 3,5). „Kinder Gottes“ bzw. „von oben geboren“ werden beinhaltet die Absage an die Welt(ordnung) des römischen Imperiums und das Vertrauen auf die Welt Gottes wie sie im Messias und in der messianischen Gemeinde Gestalt annimmt. Sie sind diejenigen, die an „seinen Namen glauben“, diejenigen, die erkennen, dass im Messias Jesus all das geschieht, was der Gottesname beinhaltet und verspricht. Wer darauf vertraut, ist „aus Gott geboren“ wie auch der Messias zu Gott gehört und in ihm seinen Ursprung hat, also als Wort „bei Gott“ (1,1) war.

„Aus Gott geboren“ ist die messianische Gemeinde eine neue Schöpfung. Sie entsteht weder aufgrund der Verbundenheit durch das Blut noch aus dem Willen einer patriarchalischen Ordnung; sie wird Wirklichkeit als Gottes neue Schöpfung, die weder aus einer natürlichen noch aus einer geschichtlichen Ordnung abgeleitet werden kann. In ihr begegnen sich Menschen nicht mehr als Knechte, sondern als befreite Freunde und Freundinnen des Messias; „denn“ – so sagt Jesus – „euch habe ich alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“ (Joh 15,14-15). Das liegt nahe bei dem, was Paulus in seinem Brief an die Galater als altes Taufbekenntnis zitiert: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich“ und als Begründung hinzufügt: „Ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28).

Und das Wort ist Fleisch geworden…“ (V. 14-18)

Analog zu der Formulierung „Ein Mann tritt auf“, also wörtlich: „Es geschah… ein Mann“ heißt es jetzt: „Das Wort geschah als Fleisch“. Gottes schöpferisches und neu schaffendes Wort wird in der Geschichte konkret im Fleisch des Messias. Es geht ein in die vergängliche Materie. Vor dem Hintergrund der Erzählung des Evangeliums ist aber nicht einfach allgemein auf menschliche Vergänglichkeit angespielt, sondern auf die Vergänglichkeit, die der Messias an seinem Fleisch erleiden musste, sein am Kreuz gefoltertes und hingerichtetes Fleisch. Es geht also nicht einfach um die „Menschwerdung Gottes“ wie es in Weihnachtspredigten – und dann noch mit dem Zusatz ‚Er wird einer von uns‘ – häufig zu hören ist. Das Wort wird ‚jüdisches Fleisch‘. Es gehört zur jüdischen Geschichte, zu all dem, wofür der Name von Israels Gott steht. Und als gefoltertes Fleisch gehört dieser Messias nicht unmittelbar zu uns, sondern zu all denen, die in Gegenwart und Geschichte Herrschaftsverhältnissen zum Opfer fallen. Erst vermittelt über die Opfer und den von Rom hingerichteten Juden Jesus aus Nazaret ist Gott für alle „Mensch geworden“. Einen Zugang zu ihm und der messianischen Gemeinde gibt es – wie Johannes deutlich macht – nur über den Weg, aus Israels Gott neu geboren zu werden.

„… und hat unter uns gewohnt…“ (V. 14)

In diesem gefolterten und vernichteten jüdischen Fleisch hat das Wort „unter uns gewohnt“. Es fällt auf, dass jetzt nicht mehr in der dritten (er/sie/es hat…), sondern in der ersten Person (Wir) gesprochen wird. Darin wird der Zusammenhang zur messianischen Gemeinde als neuer Schöpfung weitergeführt. Johannes formuliert ihr Bekenntnis. Die Rede vom Wohnen – wörtlich: ‚er hat gezeltet‘ – greift die Tradition vom Wohnen Gottes in seinem Volk Israel auf. Das Zelt repräsentiert Gottes Gegenwart auf Israels Weg der Befreiung aus Ägypten in das Land der Verheißung. Es erinnert an das Zelt der Begegnung (Ex 40,34-38), der Wohnung Gottes, von der aus Gott vermittelt über Mose zu seinem Volk gesprochen hat. Gott geht Israels Weg der Befreiung mit, aber auch dann, wenn dieser Weg scheitert, trennt er sich nicht von seinem Volk, sondern geht sogar den Weg mit ins Exil. Nur weil in Israel darauf vertraut wurde, dass Gott, obwohl es sich von ihm verlassen fühlte, er doch auch im Vermissen seiner Nähe, in der Erfahrung seiner Ferne da war, konnte die Hoffnung auf eine neue Befreiung auch aus dem Exil wachsen. In der jüdischen Tradition – gerade auch nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer und die Vertreibung der Juden über das ganze römische Reich hinweg – war dieses Vertrauen lebendig geblieben.

„… und wir haben seine Herrlichkeit geschaut…“ (V. 14)

Der Begriff ‚Herrlichkeit‘ meint von seinem sprachlichen Hintergrund her den Glanz, der in einem Geschehen gegenwärtig ist (griechisch: doxa) bzw. von der Grundbedeutung des zugrundeliegenden hebräischen Wortes – kabód – das Gewicht, das in einem Geschehen zur Geltung kommt, genauer das Schwergewicht Gottes, das in ihm sichtbar wird. Dieses Schwergewicht Gottes wird in der Erzählung des Evangeliums nach Johannes in der Hinrichtung des Messias am Kreuz der Römer sichtbar. Diese Hinrichtung war Folge des Wegs der Solidarität mit den Opfern der römischen Herrschaft, den der Messias gegangen war. Dieser Weg kommt – so Johannes – am Kreuz an sein Ziel, zu seiner Vollendung. Am Kreuz ist alles „vollbracht! Und er neigte sein Haupt und übergab den Geist“ (Joh 19,30) seinem Gott.

Im Weg der Solidarität, den der Messias im Widerstand gegen die römische Herrschaft bis in seine Erniedrigung am Kreuz der Römer zu Ende geht, hat die messianische Gemeinde die Herrlichkeit Gottes geschaut. So paradox es erscheinen mag: Auf dieser Erniedrigung liegt das ganze Gewicht von Israels Gott. Darin wird Gott selbst sichtbar. Seine Herrlichkeit leuchtet gerade da auf, wo menschlich-solidarische ‚Herrlichkeit‘ am Ende ist, weil alles Schwergewicht der Herrschaftsverhältnisse, die Selbstherrlichkeit ihrer Macht darüber triumphiert. Das hat nichts mit einer Überhöhung des Leidens zu tun, wie es oft da zum Ausdruck kommt, wo gegen aufkommende Theodizeefragen schnell versichert wird, Gott sei im Leiden und bei den Leidenden zu finden. Schon gar nicht geht es darum, dem Leiden einen Sinn zu geben. Wenn Johannes von Gottes Präsenz am Kreuz des Messias spricht, dann deshalb, weil er von der Hoffnung getragen ist, dass Roms Macht nicht das ‚letzte Wort‘ hat, sondern Israels Gott auch gegen Rom und angesichts des Todes des Messias sein schöpferisches Wort neu gesprochen, ihn auferweckt und der Verfügung Roms entzogen hat. Gott geht mit ins Exil, mit ans Kreuz des Messias, weil nur da, wo Gott gegenwärtig ist, Herrschaft und Tod negiert werden können, ihnen das ‚letzte Wort‘ streitig gemacht werden kann. Gott wird nicht einfach ‚ohnmächtig‘ schon gar nicht um die Ohnmacht zu verklären, sondern zeigt in der Erniedrigung seine schöpferische Macht, seine ‚Allmacht‘.

Johannes stellt dies so stark heraus, weil die offensichtliche Niederlage des Messias am Kreuz der Römer ihn bei seinen jüdischen Gegnern am deutlichsten zu diskreditieren und zu widerlegen schien. Wie kann es einen Messias geben, ohne dass die messianischen Hoffnungen in der Welt Wirklichkeit werden? Johannes will deutlich machen, dass es durchaus jüdischer Tradition entsprechen kann, den Messias von seiner paradoxen Verherrlichung am Kreuz her zu verstehen. Am Ort tiefster Erniedrigung, an den der Weg der Solidarität geführt hat, „haben wir seine Herrlichkeit geschaut“, bekennt die messianische Gemeinde. Hier hat Gott gezeigt, dass er in der Auferweckung des Messias sein ‚letztes Wort‘ gesprochen, den Messias ins Recht und Rom ins Unrecht gesetzt hat.

„… die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (V. 14)

Mit der Formulierung „voll Gnade und Wahrheit“ greift Johannes wieder auf eine zentrale Tradition der hebräischen Bibel zurück. Nach Ex 34 ging Gott vor Moses Angesicht „vorüber und rief: Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Diese Aussage steht im Zusammenhang damit, dass Gott dem Mose zum zweiten Mal die Tafeln mit den zehn Geboten gibt, nachdem Mose die ersten Tafeln nach dem Bau des goldenen Kalbes (Ex 32) zerbrochen hatte. Gottes „Huld und Treue“ zeigt sich darin, dass er seinem Volk nachgeht und mit ihm einen neuen Anfang macht. Sie wird jetzt neu erfahrbar im Leben des Messias. Dem was hebräisch mit „Huld und Treue“ gemeint ist, entspricht das, was aus dem Griechischen mit „Gnade und Wahrheit“ übersetzt wird. Wahrheit ist dabei nicht als eine abstrakte Einsicht zu verstehen, die wahr ist. Als wahr, als richtig, als zuverlässig bewährt sich die Treue Gottes, die sich in seiner Zuwendung zu Israel zeigt. Im Blick auf das Kreuz des Messias heißt das: Israels Gott hat im Weg der Solidarität, den der Messias gegangen ist, seine Treue gezeigt. Er war „erfüllt von solidarischer Treue“, wie Ton Veerkamp übersetzt3. Dieser Treue kann die messianische Gemeinde trauen, sich ihr anvertrauen. In ihr steckt die Fülle des Lebens, die Gott am Ende der Zeit für alle durchsetzen wird; denn dazu ist der Messias gekommen und hat sein Leben eingesetzt, „damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Entsprechend schließt das Evangelium mit dem Hinweis: Es ist „aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31).

Johannes legt Zeugnis über ihn ab …“ (V. 15)

Das Bekenntnis der messianischen Gemeinde schließt sich mit dem Zeugnis des Täufers Johannes zusammen. Er hatte über Jesus gesagt: „Er, der nach mir kommt, ist mir voraus, weil er vor mir war“ (V. 16). „Mir voraus“ meint wörtlich: Der Messias ist „der erste“. Johannes, kommt dem Rang nach hinter ihm, obwohl er zeitlich der ältere ist. Er ist der Zeuge für den Messias, der zeitlich nach ihm kommt und dennoch der erste ist, weil er als Gottes Wort schon von Anfang an ‚bei Gott‘ war und von ihm her kommt (1,1f) und von ihm her „Kunde gebracht“ hat (1,18), wörtlich: ihn ausgelegt hat.

Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen…“ (V. 16f)

Aus der Fülle des Lebens, die im Messias gegenwärtig ist, hat die messianische Gemeinde ihr Leben der Solidarität, das sie im Widerstand gegen die Herrschaft Roms lebt, empfangen. Ihre messianische Existenz bezeugt: Rom hat nicht das ‚letzte Wort‘. Die messianische Gemeinde lebt nicht ‚von Roms Gnaden‘. Sie verdankt sich dem Messias und dem Wirken Gottes, das in ihm zur Wirkung und zur Wirklichkeit kommt. Das ist „Gnade über Gnade“ (V. 16) oder „Solidarität für Solidarität“ wie Veerkamp übersetzt4. Das alles hat seine Wurzeln im Ersten Testament: Da hat Gott – vermittelt über Mose – seinem Volk als Ausdruck seiner „Huld und Treue“ die Tora geschenkt. Jetzt unter dem scheinbaren Ende Israels unter römischer Herrschaft schenkt er seine Gnade, seine ‚Huld und Treue‘ neu. Er macht sie wahr „durch Jesus Christus“.

Niemand hat Gott je gesehen…“ (V. 18)

Aber es gibt einen, der „Kunde gebracht“ (1,18) hat, wörtlich, der ‚Gott ausgelegt hat‘. Er ist der „einzige, der Gott ist und am Herzen des Vater ruht“: der Messias. Mit diesem Bekenntnis greift der Prolog auf den Anfang zurück: Der Messias war als das Wort, das Fleisch geworden ist, von Anfang an bei Gott. Er kam von Gott und konnte deshalb „Kunde“ bringen bzw. Israels Gott auslegen. Ausgelegt hat er ihn in seinem Weg der Solidarität bis ans Kreuz der Römer. Darin hat er Gott, den „niemand je gesehen“ hat, sichtbar gemacht. Die Sichtbarkeit des Messias am Kreuz greift zugleich vor auf das Ende des Evangeliums. Thomas hat die Wunden des Gekreuzigten gesehen und bekennt: „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,29). Dieses Bekenntnis ist antirömisch; denn zur Zeit des Johannes ließ sich der römische Kaiser als „Herr und Gott“ verehren. Für Thomas zeigt sich die HERRlichkeit Gottes aber nicht in der HERRschaft, sondern in dem von ihr Hingerichteten und Erniedrigten. Darauf antwortet der Auferstandene: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du.“ (Joh 20,29). Thomas gehörte zu denen, die noch „gesehen“ hatten wie der Messias seinen Weg der Solidarität bis zur letzten Konsequenz gegangen ist. „Selig“ gepriesen werden nun die, „die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29). Gemeint sind diejenigen, die den Messias in ihrem Leben nicht mehr gesehen haben. Auch sie können zum Glauben an das finden, was diejenigen bezeugen, die es „gesehen“ haben: Gottes HERRlichkeit, die sichtbar geworden ist im Weg des Messias. Dafür steht als neue Schöpfung Gottes die messianische Gemeinde, in der der Weg des Messias und das befreiende Wirken von Israels Gott lebendig ist.

Herbert Böttcher

1Vgl. die ausführlicheren Darstellungen hierzu in den Auslegungen zum Zweiten und Dritten Adventssonntag 2020.

2Gemeint ist nicht eine Identität, also Jesus ist Gott. Im Text steht nicht „… sind einer“, sondern „eins“. Gott und Jesus gehören so zusammen, dass in Jesus all das gegenwärtig ist, was Inhalt des Gottesnamens ist. Zugleich aber wird Jesus als der Sohn von Gott als dem Vater unterschieden.

3Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes, Texte & Kontexte, Exegetische Zeitschrift, Sonderheft Nr. 3 (2015), 11

4Ebd., 16.