„Steh auf und geh umher“, Apg 3,1-11

1 Petrus und Johannes gingen zur Gebetszeit um die neunte Stunde in den Tempel hinauf. 2 Da wurde ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Man setzte ihn täglich an das Tor des Tempels, das man die Schöne Pforte nennt; dort sollte er bei denen, die in den Tempel gingen, um Almosen betteln. 3 Als er nun Petrus und Johannes in den Tempel gehen sah, bat er sie um ein Almosen. 4 Petrus und Johannes blickten ihn an und Petrus sagte: Sieh uns an! 5 Da wandte er sich ihnen zu und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen. 6 Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, steh auf und geh umher! 7 Und er fasste ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich kam Kraft in seine Füße und Gelenke; 8 er sprang auf, konnte stehen und ging umher. Dann ging er mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Alle Leute sahen ihn umhergehen und Gott loben. 10 Sie erkannten ihn als den, der gewöhnlich an der Schönen Pforte des Tempels saß und bettelte. Und sie waren voll Verwunderung und Staunen über das, was mit ihm geschehen war. 11 Da er sich Petrus und Johannes anschloss, lief das ganze Volk bei ihnen in der sogenannten Halle Salomos zusammen, außer sich vor Staunen.

Mit Apg 3 beginnen die Erzählungen von den Konflikten zwischen der messianischen Gemeinde mit Instanzen, die das jüdische Volk leiten. Sie entzünden sich an den „Wundern und Zeichen“, die mit dem Handeln der Apostel einhergehen. Dies wurde bereits in Apg 2,43 angedeutet. „Wunder und Zeichen“ gehören in die Tradition des Exodus. Unter „Wundern und Zeichen“, so heißt es da immer wieder, hat Gott sein Volk aus Ägypten herausgeführt. Den Auftakt, zu den „Wundern und Zeichen“, die Lukas von den Aposteln erzählt, bildet die Geschichte von der Heilung des Gelähmten (3,1-11).

Es geht um einen Mann, der von Geburt an gelähmt ist. Er ist darauf angewiesen, dass jemand ihn täglich an das Tor des Tempels bringt. In einem exegetischen Kommentar von Klaus Haacker ist die Szene mit „Heilung statt ‚milder Gabe‘“1 überschrieben. Mit einer unmittelbaren Aktualisierung werden ‚moderne‘ Verhältnisse in den Text eingetragen. Dem entspricht, wenn es in der Einheitsübersetzung heißt: Er „sollte um Almosen betteln“ (V. 2).

Unberücksichtigt bleibt, dass das so übersetzte griechische Verb (aiteo) auch mit ‚fordern‘ wiedergegeben werden kann. Entsprechend der Tora bittet der Gelähmte nicht um eine „milde Gabe“, sondern fordert etwas ein, das ihm zusteht. Das griechische Wort (eleämosynä), das mit Almosen übersetzt wird, beinhaltet Barmherzigkeit, also Mitgefühl, Compassión wie wir an Anschluss an J.B. Metz oft sagen. In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Ersten Testaments, wird damit das hebräische Wort für Gerechtigkeit (zedaqa) wiedergegeben. Das Tun der Gerechtigkeit beinhaltet das Tun der Tora und umgekehrt. Gerade im Umgang mit den Schwachen zeigt sich, ab das Tun der Gerechtigkeit und damit die Tora eingehalten wird (vgl. Mt 25,31ff).

„Petrus und Johannes blickten ihn an…“ (V. 3). Gemeint ist ein gezieltes Hinsehen. Barmherzigkeit/Comapssión öffnet und weitet den Blick. Dieser richtet sich nicht ‚nach innen‘. Mystik wird hier zu einer „Mystik der offenen Augen“2. Nicht Buddha, dessen Blick nach innen geht, steht hier ‚Pate‘, sondern Jesus, dessen Blick sich ebenso wie der von Petrus und Johannes auf den richtet, der leidet. Anders gesagt: „Buddha meditiert, Jesus schreit“3 angesichts des Leids. Mit dieser Formel versucht Metz ein wesentliches Charakteristikum christlicher Spiritualität zu verdeutlichen. Christlicher Glaube ist

„ein gerechtigkeitssuchender Glaube. Gewiss, Christen sind immer auch Mystiker, aber eben nicht ausschließlich Mystiker im Sinne einer spirituellen Selbsterfahrung, sondern auch im Sinne einer spirituellen Solidaritätserfahrung. Sie sind ‚Mystiker mit offenen Augen‘. Ihre Mystik ist keine antlitzlose Naturmystik. Sie ist vielmehr eine antlitzsuchende Mystik, die in der Begegnung mit den Anderen, vorweg mit dem Antlitz der Unglücklichen und der Opfer führt. Sie gehorcht in erster Linie der Autorität der Leidenden. Die in diesem Gehorsam aufbrechende und sich abzeichnende Erfahrung wird für diese antlitzsuchende Gerechtigkeitsmystik zum irdischen Vorschein der Nähe Gottes in seinem Christus: ‚Herr, wann hätten wir dich je leidend gesehen …?‘ heißt es in der sog. Kleinen Apokalypse Mt 25. ‚Und er antwortete ihnen: Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.‘“4

Haackers Rede von „milder Gabe“ entspricht seiner aktualisierenden Deutung des Blicks von Petrus und Johannes, die dem modernen Arsenal der Diffamierung von Arbeitslosen entnommen sein könnte: „Uns heute ist es nicht zu verübeln, wenn wir auf den Gedanken kommen, dass die Behinderung des Bettlers vielleicht nur eine gespielte war. Dazu würde der ‚Scharfblick‘ des Petrus in V. 4 gut passen!“5

Petrus und Johannes haben zwar kein Geld. Ohne Geld sind so unterwegs, wie Jesus es seinen Aposteln aufgetragen hatte (Lk 9,3). Und dennoch tun sie die von ihnen geforderte Gerechtigkeit. Sie richten den Gelähmten auf. Dabei fällt das Wort: „Steh auf …!“ (V. 6). Lukas gebraucht das Wort (egeiro), das er auch benutzt, wenn er von der Auferweckung des Messias von den Toten spricht. Wie Jesus aus dem Tod aufgerichtet wurde, so wird es der Gelähmte aus seiner Lähmung. Das „Steh auf“ wird ergänzt durch „ … und geh umher!“ (V. 6). Dabei geht es nicht nur darum, dass er wieder herum gehen kann. Vielmehr klingt mit dem griechischen Verb (peripateo) der Bezug auf die hebräische ‚Halacha‘ an. Gemeint ist dann das ‚Gehen auf den Wegen der Tora‘. Als ‚Aufgerichteter‘ kann der Gelähmte den Weg der Gerechtigkeit gehen. Zu diesem Gehen gehört dann auch, dass er mit Petrus und Johannes in den Tempel geht (V. 8).

Damit der Gelähmte im angedeuteten Sinn gehen kann, musste „Kraft in seine Füße und Gelenke“ kommen (V. 7). Mit Füße wird ein Wort übersetzt, von dem unser Wort Basis kommt (baseis). In der Septuaginta sind damit die Halterungen (Fußgestell, Stützen) des Zeltes gemeint, das als Zeichen der Gegenwart Gottes, den Weg der Befreiung begleitete6. Der Gelähmte bekommt eine neue ‚Basis‘, auf der er den Weg der Befreiung gehen kann. Nun wird dies im Zusammenhang mit einer Geschichte gesagt, in der es um den Tempel geht, der zur Zeit, in der die Apostelgeschichte geschrieben wird, von den Römern zerstört ist. Dann aber geht es in dieser Geschichte nicht zuletzt darum, dass das am Boden liegende Israel aufgerichtet und aus seiner Lähmung befreit wird. In dem Gelähmten geht Israel wieder neu den Weg der Tora. Es kann wieder gehen und Gott loben (V. 9). So erfüllt sich neu die Verheißung, die Jesaja so formuliert hatte: „Seht, euer Gott! … Er selbst kommt und wird euch retten. … Dann springt der Lahme wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen frohlockt…“ (Jes 35,4.6). In dem einen Gelähmten ist ein „Wunder und Zeichen“ geschehen, dass ganz Israel gilt. So wie er soll Israel aus seiner Lähmung durch die Zerstörung des Tempels und die Vertreibung durch die Römer aufgerichtet werden, damit es wieder den Weg der Tora gehen und Gott als seinen Befreier leben kann.

Konfliktträchtig zwischen messianischer Gemeinde und jüdischer Leitung ist die Berufung auf den Namen Jesu Christi. Aufgerichtet werden soll Israel wie der Gelähmte aufgerichtet worden ist: „im Namen Jesu Christi des Nazoräers“ (V. 5). Da ist der Gottesname angesprochen, und die mit ihm verbundene Verheißung der Rettung mit dem Messias Jesus verbunden. Genau daran werden sich die Konflikte zwischen messianischer Gemeinde und jüdischer Leitung entzünden.

 

1Klaus Haacker, Die Apostelgeschichte. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart 2019, 73.

2Johann Baptist Metz, Mystik der offenen Augen, Gesammelte Schriften, Band 7, Freiburg im Breisgau 2017.

3Johann Baptist Metz, Christliche Spiritualität in dieser Zeit (2012), in: ders.. Mystik der offenen Augen (vgl. Anm. 2), 23.

4Ebd., 16.

5Haack (s. Anm 1), 75, Anm. 14.

6Vgl. Gerhard Jankowski, Und sie werden hören. Apostelgeschichte 1,1 – 9,31. Texte & Kontexte. Exegetische zeitschrift Nr. 91/92, 24. Jahrgang 3-4/2001, 71.