Unter dem Druck des Lockdowns stehen auch die Kirchen in der Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten sich den staatlichen Anordnungen kritiklos unterworfen. Nun macht der ‚Lockdown‘ viele kirchliche Probleme sichtbar: die Sprachlosigkeit angesichts des Leids von Menschen, unzureichende Parteinahme für diejenigen, die als Arme bei uns und weltweit die ersten Opfer der Pandemie sind, die Flucht in banale Inszenierungen… Die gottesdienstliche ‚Zurückhaltung‘ der Kirchen verdient jedoch Anerkennung. Sie entspricht der Rücksicht auf Gefährdete in der Gesellschaft.
Damit üben die Kirchen zugleich Distanz zu jenen, die sich in ‚Querfrontformaten‘ zu Verteidigern von Freiheit und Demokratie aufschwingen. Autoritäre Rechte pochen auf Freiheit. Liberale entdecken die soziale Benachteiligung von Kindern sowie den Wert der analogen Welten und der Begegnung von Mensch zu Mensch. Das dient dem Zweck, möglichst viel kapitalistische Normalität zu sichern.
Gegen solche Ungereimtheiten sollten die Kirchen ‚kühlen Kopf‘ bewahren. Ihnen darf es nicht darum gehen, ihre religiös-kultischen Interessen durch zu setzen. Ihre Aufgabe ist es, für diejenigen einzutreten, die mit Corona noch mehr als bereits in der kapitalistischen Normalität unter die Räder geraten: Kranke und Alte, Wohnungslose und MigrantInnen, Menschen in der Zweidrittelwelt, kurz: alle, deren ‚Humankapital‘ nicht verwertbar ist. Ihr Elend dürfte sich ‚nach Corona‘ noch einmal verschärfen, dann nämlich, wenn die Schulden bezahlt werden müssen. Genau darauf werden jene rechten und liberalen Kräfte drängen, die jetzt ihr Herz für die Freiheit und das Soziale entdeckt zu haben scheinen.
Herbert Böttcher, Pastoralreferent i.R.
(zuerst veröffentlicht in „Am Wochenende“ am Samstag, den 14.11.2020)