‚Matthäi am letzten‘ meint in der Regel den Schluss des Evangeliums nach Matthäus mit der Sendung der Jünger und Jüngerinnen zu den Völkern (Mt 28,19ff). Hier sei diese Redensart einmal bezogen auf die Texte aus Matthäus, die im Lesejahr A an den letzten Sonntagen des Kirchenjahres als Evangelium gelesen werden: die Gleichnisse von den klugen und törichten Jungfrauen (25,1-13), von den anvertrauten Talenten (25,14-30) und schließlich vom Gericht des Menschensohns über die Völker (25,31-46) am Fest Christkönig. Alle sind ausgerichtet auf die Wiederkunft des Menschensohns. Dies verbindet sie mit dem Advent, der mit einem Evangelium beginnt, das nach einer Vision aus dem Buch Daniel (Kap. 7) „den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen“ sieht (so z.B. Mk 13,26) und damit die Überschrift über das gesamte Kirchjahr setzt.
Alle Texte sind eingebettet in die Mahnung, wachsam zu sein. Sie soll ausgerichtet sein auf das ‚Letzte‘, die ‚letzten Dinge‘ wie es einmal geheißen hat. Gemeint waren Tod, Himmel, Fegefeuer und Hölle. Danach hat die Eschatologie als Lehre von den ‚letzten Dingen‘ ihren Namen. Nun will mit Hölle und Fegefeuer kein ‚mündiger Christ‘ mehr etwas zu tun haben. Sie gelten als Mythos und gehören entmythologisiert. Insofern hat sich an der klassischen Lehre von den ‚letzten Dingen‘ etwas geändert. Nicht geändert hat sich jedoch, dass sie auf den individuellen Tod bezogen werden. Sie werden privatisiert und von der Frage, was die Wiederkunft des Menschensohns für die Welt, für die Völker, zu denen die JüngerInnen nach Matthäus doch gesandt sind, zu bedeuten hat. So sind sie offen für esoterische Vorstellungen von einem irgendwie gearteten Weiterleben des ‚Selbst‘ oder einer entmaterialisierten Seele in den Kreisläufen der Natur. Solche Naturmythologie scheint vielen nachvollziehbar, während die biblischen Bilder entmythologisiert werden sollen.
Statt biblische Bilder auf ihre Verträglichkeit mit der Moderne hin zu entmythologisieren, käme es darauf an zu erkennen, welches Verhältnis zur Geschichte und ihren Katastrophen sich in den Bildern Ausdruck verschafft. Dann ginge es nicht um Anpassung an die aufgeklärte Moderne und ihre Katastrophen, sondern um deren Kritik. Genau dies läge auf der Linie der Gleichnisse und Bilder, die uns aus dem Evangelium des Matthäus am Ende des Kirchenjahres und im Übergang zum Advent ‚angeboten‘ werden.
Ein aufmüpfiger Knecht als Lesehilfe[1]
Eine Möglichkeit, die ‚letzten‘ Gleichnisse bei Matthäus zu verstehen, bietet der aufmüpfige Knecht an, der das ihm angebotene Vermögen vergraben hat. Als er von seinem „Herrn“ zur Rechenschaft gezogen wird, antwortet er: „Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mensch bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast…“ (25,24). Das ist Herrschaftskritik: Die römischen Herren ernten, wo die kleinen Leute gesät haben. Sie sammeln, was andere ausgestreut haben. Ihre Herrschaft funktioniert nach der Logik: „Wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat“ (25,29). Auf solche Herrschaftskritik reagiert der „Herr“ mit der ihm eigenen Strenge. Der Kritiker wird „in die äußerste Finsternis“ geworfen, dort hin, wo „Heulen und Zähneknirschen sein“ (25,30) werden. Natürlich wird hier in mythischen Bildern gesprochen. Sie dürfen nicht unmittelbar aus der Bildebene in die Ebene der Realität übertragen werden. Bittere Realität sind aber die geschichtlichen Verhältnisse, die hier kritisiert werden. Sie dürfen in bürgerlicher Entmythologisierung nicht zum Verschwinden gebracht und schon gar nicht remythisiert werden durch Mythen, die von den Verhältnissen und ihrer Kritik entlasten.
Eine herrschaftskritische Lesart des Gleichnisses war/ist dadurch blockiert, dass der „Herr“, von dem das Gleichnis spricht, mit Jesus bzw. Gott identifiziert wurde/wird. Luise Schottroff hat sozialgeschichtlich plausibel gemacht, dass der „Herr“ in unserem Gleichnis als römischer Herr geschildert ist, der über sein Land verfügt und es Verwaltern mit der Vorgabe anvertraut, Reichtum und Macht zu akkumulieren[2]. Daran, ob die Verwalter dabei erfolgreich waren, orientiert sich sein ‚strenges‘ Urteil. Auch das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (25,1-13) ist aus den römischen Herrschaftsverhältnissen heraus zu verstehen. Die Jungfrauen präsentieren sich als Konkrurrentinnen auf einem Heiratsmarkt. Da liegt es in der Natur der Sache, dass für einige die Türen verschlossen bleiben und das Öl nicht für alle reicht. Einige werden aus dem Rennen geworfen, zugleich zeigt „die Schlussszene […] das hässliche Gesicht, die harte Realität einer Gesellschaft, die Frauen über ihre Anpassung, Unterwerfung und Ehe definiert“[3]. Gottes Advent steht im Kontrast zum Handeln des im Gleichnis geschilderten Bräutigams ebenso wie im Kontrast zu dem „Herrn“ aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten. Gegen sie und die Welt, die sie repräsentieren, steht die Hoffnung auf Gottes Kommen zur Befreiung. Sie macht „die Menschenwelt in ihrem Elend sichtbar“[4] statt sie ‚positiv‘ wegzudenken oder mit neuen (postmodernen) Mythen über sie hinweg zu trösten.
Weil es nicht darum geht, die Verhältnisse zu ignorieren oder sich über remythologisierenden Trost mit ihnen zu arrangieren, sondern um Kritik und die Überwindung von Herrschaft, enthalten die Gleichnisse die Botschaft des Gerichts. Sie wird im Gleichnis vom Weltgericht erzählend ausformuliert. „Das gesellschaftliche Unrecht, das junge Mädchen zurichtet und Sklaven zu Handlangern der Enteignung kleiner Landwirtschaften macht (Mt 25,1-30), wird mit der Erwartung des göttlichen Gerichts (Mt 25,31-46) konfrontiert“[5]. Die Verhältnisse, die es ermöglichen, sind nicht das ‚Letzte‘. Das ‚letzte Wort‘ hat Gott. Das beinhaltet die Hoffnung auf das Gericht. Sein Maßstab sind die Geringsten. An ihnen scheiden sich Denken und Handeln. Daran, dass sie leben können, ist Gottes kommende Welt aus‘gerichtet‘. Eine allgemeine Liebesbotschaft mit einem Gott ohne inhaltliche ‚Aus-Richtung‘ ist nicht nur banal, sondern angesichts der realen Verhältnisse nicht weniger zynisch als alle remythisierenden Beschwichtigungen (des Selbst). Deshalb gilt die adventliche Botschaft: Seid wachsam – gegenüber den tödlichen Verhältnissen und gegen die Tröstungen, die auf spirituellen Märkten und leider oft auch in Kirchen angeboten werden.
Wir hören die adventlichen, d.h. auf Gottes Kommen ausgerichteten Texte in diesem Jahr mitten in der Corona-Epidemie. Sie ist nicht unabhängig von den Verhältnissen, die wir kritisieren, sondern aus ihnen, aus ihrem Umgang mit der Natur, mit Tieren und Menschen entstanden. Sie verbreitet sich über Handels- und Reisewege. Ihren Zusammenhang bildet die Ausrichtung der Gesellschaft auf den irrationalen Selbstzweck, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren. Es steht zu befürchten, dass sich mit der Pandemie und ihren Folgen die Krise des Kapitalismus weiter verschärfen wird – vor allem für die ‚Geringsten‘. Wachsamkeit ist geboten angesichts eines Denkens und Handelns, in dem vieles ‚verquer‘ ist. Freiheit fordern solche, die gegenüber Terrorismus und MigrantInnen nicht genug an Verschärfungen bekommen können. Auf soziale Benachteiligung in der Bildung pochen solche, die ohne Pandemie alles tun, um die sozialen Gegensätze zu verschärfen… Die geforderte Freiheit ist jene Freiheit der neoliberal zugerichteten Individuen, die ‚eigenverantwortlich‘ und sozialdarwinistisch um Selbstbehauptung kämpfen – ohne die eigene Freiheit in ein Verhältnis zu Alten und Kranken oder in ein Verhältnis zu sozialen Bereichen zu setzen, in denen Lockerungen im Interesse menschlicher Begegnungen notwendig sind.
In diesen Tagen haben wir mit dem Steg in den letzten Jahren immer wieder derjenigen gedacht, die als Suchtkranke und oft zugleich als Wohnungslose Opfer der Verhältnisse geworden sind. Die Entscheidung auf ein gemeinsames Gedenken in diesem Jahr zu verzichten, war angemessen. Der Verzicht schützt diejenigen, die auch von Corona am meisten bedroht sind: Kranke und ältere Menschen, solche die kapitalistisch nicht verwertbar sind. Sie entlastet zugleich diejenigen, die sich als Ärzte und Pflegepersonal über die Grenzen ihrer Belastung hinaus in den Krankenhäusern um die Opfer der Pandemie kümmern. An diejenigen, die bei unseren Gedenkfeiern und unserem Gang zum Grab in der Mitte unserer Erinnerungen stehen, sei in diesem Zusammengang besonders gedacht.
Herbert Böttcher
[1] Weil einem angemessenen Verständnis der Gleichnisse die gängige Übersetzung der Einleitung dieser Gleichnisses entgegensteht, eine ausführlichere Anmerkung zur Übersetzung. „Mit dem Himmelreich ist es, wie“ oder „…wird es sein…“ steht so oder ähnlich in vielen Übersetzungen, auch in der Neuen Einheitsübersetzung, aber nicht in dieser Weise im griechischen Text. Das griechische Wort, das im Original steht, wird einfach mit ‚ist‘ oder ‚wird sein‘ wieder gegeben. Luther war da schon etwas genauer. Er übersetzt: „wird gleichen“.
Das exegetische Wörterbuch zum NT (Balz/Schneider, 1992) gibt als Übersetzung des griechischen Wortes an: ‚gleichen, vergleichen‘ und bemerkt, dass diese Worte „nicht auf eine Gleichsetzung, sondern auf den Vergleich mit dem erzählten Geschehen“ zielen. Also müsste es in einer eher wörtlichen Übersetzung heißen: Das Himmelreich wird verglichen werden… Dabei müsste klar sein, dass ‚vergleichen‘ nicht ‚gleich setzen‘ heißt… Im Klartext: Ob der Vergleich affirmativ oder kritisch zu verstehen ist, ergibt sich „mit dem erzählten Geschehen“. Dass er kritisch gemeint ist, wird dann inhaltlich dadurch klar, dass der „Herr“ sozialgeschichtlich einem römischen Herrn entspricht und zum zweiten, dass es vor dem Hintergrund jüdischen Befreiungs- und Tora-Denkens (Zins ist ja verboten.) kaum vorstellbar ist, dass mit einem solchen „Herrn“ Gott oder Jesus gemeint sein kann.
Entsprechend übersetzt Luise Schottroff: „Denn das Königtum der Himmel solltet ihr mit der Geschichte von einem Mann vergleichen, der …“ Und in der „Bibel in gerechter Sprache“ heißt es: „Denn die Welt Gottes solltet ihr mit der Geschichte von einem Mann vergleichen, der…“ Das hört sich doch anders an, als wenn das griechische Wort für ‚gleichen‘, ‚vergleichen‘ einfach mit einer Form von ’sein‘ wieder gegeben wird und das Gleichnis schon mit der Übersetzung identitätslogisch kurz geschlossen wird.
[2] Vgl. Luise Schottroff, Das Gleichnis von den Talenten und das Gericht über die Völker. Matthäus 25,14-46, in: dies., Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 290-294. Dort auch Auslegungen zu ähnlichen Gleichnissen, vgl. u.a. 44-68 (Mt 25,1-13), 274-285 (Mt 20,1-16).
[3] Dies., Die geschlossene Tür. Matthäus 25,1-13, in: ebd., 47.
[4] Ebd., 54.
[5] Dies., Das Gleichnis von den Talenten (Anm. 1), 293.