Evangelium zum 1. Advent: Mk 13,24-37
24 Aber in jenen Tagen, nach jener Drangsal, wird die Sonne verfinstert werden und der Mond wird nicht mehr scheinen; 25 die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. 26 Dann wird man den Menschensohn in Wolken kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. 27 Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels.
28 Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 So erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass er nahe vor der Tür ist. 30 Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. 31 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. 32 Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.
33 Gebt Acht und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. 34 Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug die Vollmacht seinen Knechten, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein. 35 Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. 36 Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen.
Von der Entmythologisierung zur Remythisierung
Altes und neues Kirchenjahr sind durch die Bilder von der Wiederkunft des Menschensohns miteinander verbunden. Es sind Bilder, die in der biblischen Apokalyptik (vor allem im Buch Daniel und der Offenbarung des Johannes) ihren Ort haben. Sie wurden wie die Apokalyptik insgesamt als Mythos abgetan. Gemeint waren Bilder und Aussagen, die aus Zeiten stammen, in denen Menschen mit jenseitigen oder vorzeitlichen Welten verbundene Bilder und Geschichten, also Mythen oder Sagen, noch brauchten, um ihr Dasein zu deuten. Viele können mit diesen Geschichten nichts mehr anfangen, weil sie modernen Weltbildern fremd sind. Die Konsequenz: Vom Mythos geprägte biblische Aussagen sollen vom Mythos gereinigt, also entmythologisiert, werden. Auf diesem Weg sollen biblische Texte auf die Höhe der aufgeklärten Welt gebracht und für moderne Menschen nachvollziehbar gemacht werden. Es geht darum, den ‚modernen‘ Menschen unmittelbar anzusprechen. Das schien über die Verbindung von Entmythologisierung mit einer Existenzialisierung des Glaubens möglich. TheologInnen versprechen sich davon, den Glauben für das Leben moderner Menschen zu erschließen. Angesprochen wurde ‚der Bürger‘ in seiner unmittelbaren Existenz. Im Blick auf die Eschatologie, die sog. Lehre von den ‚letzten Dingen‘, wurden vermeintlich rein mythische Bilder über das Ende der Welt uminterpretiert auf das Ende des individuellen menschlichen Lebens, auf den Umgang mit der existentiellen menschlichen Grunderfahrung von Sterblichkeit und Tod. Gefragt wird nach dem Umgang mit der eigenen Endlichkeit, nach der Rettung der eigenen Existenz, nach ihrem möglichen Weiterleben über den Tod hinaus.
Das hat jedoch Folgen: Die Frage nach dem Ende der Welt, die biblische Frage nach dem Bezug zu Welt und Geschichte, nach der Rettung von Menschen angesichts geschichtlicher Katastrophen, nach Unrecht und Gewalt durch geschichtliche Herrschaftssysteme wird mit den vermeintlich rein mythischen, von modernen Menschen nicht mehr verständlichen Weltbildern entsorgt. Das hat den Vorteil, dass Straf- und Höllenpredigten verschwinden. Es verschwindet aber auch die Hoffnung auf eine andere Welt. Gedacht wird vor allem ‚vom Einzelnen her‘, von seiner/ihrer individuellen Existenz. Es sollte ‚der Bürger‘ in seiner privaten Existenz erreicht werden. Inzwischen ist die gesellschaftliche Entwicklung ‚weiter‘ gegangen. In Aufstieg und Blüte der bürgerlichen Welt, die nach den Gesetzen von Produktion und Tausch und der abgespaltenen Reproduktion funktioniert, wurde ein ‚bürgerliches Christentum‘ noch gebraucht zwecks Deutung und ornamentaler Überhöhung der privaten bürgerlichen Existenz. Inzwischen sind die christlichen Traditionen verdunstet. Da, wo unmittelbar Brauchbares gesucht wird, erscheinen sie als zu fremd und kompliziert. Für die Deutung der postmodernen Existenz sind sie verzichtbar. Auf den einschlägigen Esoterik-, Ratgeber- und Therapiemärkten gibt es hinreichend spirituelle Angebote, derer man/frau sich unmittelbar bedienen kann – ohne mühsame Umwege gehen zu müssen über die kritische Auseinandersetzung mit alten Texten und Versuchen, sie zu interpretieren.
Die Blüte dieser Märkte dürfte damit zusammenhängen, dass die bürgerlich kapitalistische Welt und mit ihr ihre Weltbilder zerbrechen. Wesentliche Grundlage der bürgerlichen Welt waren Arbeit und Leistung. Sie waren eingebettet in die Familie als Ort der Reproduktion und Intimität. In der Krise des Kapitalismus brechen Arbeit und Familie, Produktion und Reproduktion ein. Der Glaube an sozialen Aufstieg und Fortschritt in eine immer bessere Zukunft schwindet dahin. Stattdessen geht die Angst vor sozialem Abstieg um und mit ihr bis zur psychischen Erschöpfung getriebene Anstrengungen, sich als Unternehmer seiner selbst im ‚Kampf ums Dasein‘ zu behaupten. Ängste und Belastungen machen eng. Sie treiben zu einfachen Antworten, die unmittelbare Entlastung versprechen – ohne Umwege über das Nachdenken über gesellschaftliche Zusammenhänge. Statt Entmythologisierung ist wieder Mythos gefragt. Gesucht sind stabilisierende Rückversicherungen, die Halt und Orientierung versprechen, die das eigene Selbst davor bewahren, ins Nichts, in die gähnende Leere gesellschaftlicher und psychischer Abgründe zu stürzen. Angesichts des Zusammenbruchs von Arbeit und Familie als ‚Haltepunkte‘ der bürgerlichen Gesellschaft ist ein letzter alles fundierender Halt in vermeintlich nicht zerstörbaren Fundamenten gefragt. Das gilt auch politisch für die Versuche, Halt in Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus zu finden. Analog dazu geht es spirituell um die Suche nach sicheren Fundamenten und Ursprüngen. Auf ihre Rolle als Ich-AG konditionierte Menschen, die – geplagt von nicht zu bannenden Ängsten vor sozialem Abstieg – unter den Anstrengungen und Erschöpfungen leiden, sich permanent als Unternehmer ihrer selbst optimieren und bewähren zu müssen, suchen unmittelbare alltagstaugliche Antworten, um das anstrengende und vom Scheitern bedrohte Leben zu stabilisieren. Gesellschaftskritische Auseinandersetzung und Interpretation biblischer Texte erscheinen vielen zu umwegig und als zusätzliche Anstrengung. Das vom gesellschaftlichen Scheitern bedrohte modern-postmoderne Selbst sucht unmittelbaren und alltagstauglichen Halt in Mythologien des Selbst. Es findet sie in den Tiefen der eigenen Seele und ihrer Verbindung mit Natur und Kosmos, in Erzählungen von den Kreisläufen der Natur, in der Verschmelzung mit der nun wieder – statt entmythologisierten – vergöttlichten Natur und ihrem ewigen ‚Stirb und Werde‘. Entsprechende spirituell-esoterische Angebote finden sich auf den einschlägigen Märkten. Die Kirchen‚ die sich ‚unternehmerisch‘ entwickeln und vom ‚Einzelnen her denken‘ wollen, blamieren sich in ihren ebenso angestrengten wie banalen Versuchen, mit der Esoterisierung von Glauben und Pastoral in der spirituellen Konkurrenz bestehen zu wollen.
Wachsamkeit statt Beschwichtigung
Gerade die apokalyptischen biblischen Traditionen – wie die von der Wiederkunft des Menschensohns – widerstehen den Neigungen zur mythischen Verschleierung der Wirklichkeit in den Selbst-Illusionen eines heilen und heilenden Selbst und mythologischer Selbstvergewisserung. Vor allem widerstehen sie der Verschleierung des Unrechts und der Gewalt, die von geschichtlicher Herrschaft ausgeht. Apokalyptik meint wörtlich Aufdeckung. Schon das Wort und noch mehr die Inhalte der Apokalyptik stehen gegen Verschleierung und Vernebelung. Mit ihrem Rückgriff auf mythische Bilder bedient sie jedoch nicht das Bedürfnis, die eigene verunsicherte Existenz durch Mythen zu stabilisieren, sondern deckt geschichtliche Herrschaft und ihre Gewaltpotentiale auf. Während die postmodernen Prozesse der Remythisierung verschleiern und vernebeln, deckt Apokalyptik auf. Sie deckt die Bedrohungen auf, die ‚von außen‘ kommen. Schuldig ist nicht der Einzelne, dem es trotz aller Techniken und Ratgeber immer noch nicht gelungen ist, sein Selbst zu stabilisieren. Sie können aufdecken, dass sein vermeintliches Unvermögen und Scheitern mit den Verhältnissen zu tun hat, die ihn ‚von außen‘ in seiner Existenz und Identität bedrohen, ihn prekär und leer werden lassen.
Apokalyptisches ‚Aufdecken‘ zielt nicht auf mythische Betäubung und Beschwichtigung, sondern darauf, „aufzustehen vom Schlaf“ (Röm 13,11), aufzuwachen aus den Tiefenträumen der Seele, darauf, der katastrophischen Wirklichkeit standzuhalten, statt in innere Welten zu fliehen. Die Erfahrung, um die es hier geht, „zielt nicht ausschließlich auf eine augenlos nach innen gewendete Erfahrung, sondern auf [eine] unterbrechende Erfahrung“1. Sie schreckt auf, lässt die Wirklichkeit erkennen und weitet den Blick aus selbstbezüglicher Angst auf die Ängste der anderen, von der eigenen Bedrohung auf die Bedrohung der Anderen in den geschichtlichen und gegenwärtigen Katastrophen. Die Weitung des Blicks in der biblischen Apokalyptik hat mit der Weitung zu tun, die mit den Inhalten verbunden sind, für die der biblische Gottesname steht: die Befreiung der Opfer aus Unrecht und Gewalt, der Lebenden und der Toten. Erst in dieser Weitung finden Menschen zu ‚sich selbst‘.
Wie problematisch unmittelbare ‚Selbstbezüglichkeit‘ ist, zeigt sich gegenwärtig bei den ‚Querdenkern‘. In falscher Unmittelbarkeit fordern sie für sich selbst individuelle Freiheit gegen autoritäre staatliche Maßnahmen, ohne diese Forderung in eine soziale bzw. gesellschaftliche Beziehung zu setzen – weder zu denen, die an Corona elendiglich zugrunde gehen noch zu den kapitalistischen Verhältnissen, in deren Zusammenhang Corona entstanden ist, sich ausbreitete und zurückwirkt. Gegen unvermittelte ‚Selbstbezüglichkeit‘ erinnert der Gottesname daran, dass die eigene Rettung nicht ohne die Rettung der anderen gedacht werden kann. Erst dann kann Wirklichkeit werden, wofür das Bild des Menschensohns steht: Gottes menschliche Welt gegen bestialische geschichtliche Herrschaft, die in der Apokalyptik in den Bildern wilder Tiere, die aus dem Abgrund aufsteigen, geschildert werden. Solche mythisch behafteten Bilder sind nicht undialektisch zu entmythologisieren, sondern auf geschichtliche Herrschaft hin zu entziffern, die sie aufdecken und überwinden wollen.
Ende der Zeit und der Welt oder ewige Wiederkehr des Gleichen?
Auch die Vorstellung eines Endes der Zeit, wie sie in den apokalyptischen Bildern zum Ausdruck kommt, gilt als mythologisch und wäre damit zu entmythologisieren. Was diese ‚Entmythologisierung‘ bedeutet, wird bei Nietzsche deutlich. Wenn Gott als derjenige, der Zeit und Welt ein Ende setzt, tot ist, wie Nietzsche verkündet, hat die Zeit weder einen Anfang noch ein Ende. Sie wird ewig. Und damit kehrt der Mythos zurück: der Mythos von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wenn die Zeit kein Ende hat, kann sie auch kein Finale haben. Dann muss auch die Hoffnung auf Rettung für die Opfer geschichtlicher Herrschaft und darin für alle verabschiedet werden. Und schon ist ein neuer Mythos geboren: der Mythos vom Übermenschen, der sich in der Leere unendlicher Zeit selbst setzt und selbst behauptet, der Mythos von kriegerischen Helden, die alle Krisen bestehen und deren Heldentum sich im Sieg über alle zeigt, die ihnen unterlegen sind. Aktuell findet dieser Mythos seinen Ausdruck in einem als antiautoritär geführten und propagierten sozialdarwinistischen Kampf um das Überleben der Stärksten. Gefordert sind Helden, die sich keiner Macht beugen, wie sie von Salonfaschisten um den Philosophen Peter Sloterdjik und seinem AfD-Abkömmling Marc Jongen propagiert werden. Außerhalb der Salons und ungeschminkt formuliert heißt das dann, „man könne doch nicht die ganze Wirtschaft lahmlegen und das öffentliche Leben stoppen, nur weil die Alten nicht sterben wollten. Wer das Virus für gefährlich halte, könne ja zu Hause bleiben“2.
Nahe an der Zeit Nietzsches hat der marxistische Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin angesichts der geschichtlichen Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg und faschistischer Herrschaft den bürgerlichen Gedanken einer auf Fortschritt ausgerichteten Geschichte kritisiert. Er hat gesehen, dass mit diesem Fortschritt die Vorstellung eines leeren und homogenen Flusses der Zeit verbunden ist; er hat darauf gesetzt, dass die Herrschaft dieses leeren „Kontinuum[s] der Geschichte“ aufgesprengt werden müsse3. Widerstand gegen die leere Herrschaft der Zeit sieht er in der jüdischen Tradition. „Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“4. In der Erwartung des Messias kann die leere Herrschaft der Zeit, der leere Lauf der Geschichte unterbrochen werden. Solche Unterbrechung widersetzt sich dem ewigen Weiter so, der Ewigkeit des ‚Stirb und Werde‘, dem Mythos von der Ewigkeit eines sozialdarwinistischen Kampfes um Sieg und Triumph. Die Sensibilität für „eine schwache messianische Kraft“5 steht gegen das Verständnis der Geschichte als Geschichte der Sieger und Überlegenen. Mit den bisherigen Siegen der Überlegenen ist die Geschichte nicht einfach abgeschlossen. Jene „schwache messianische Kraft“ setzt auf „eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unseren“6, auf „einen heimlichen Index“, durch den die Vergangenheit „auf die Erlösung verwiesen wird“7.
Benjamins Überlegungen sind nicht einfach identisch mit theologischen Überlegungen. Sie können aber Theologie und Verkündigung an ihre mit dem Gottesnamen gegebene Bindung an die Geschichte und das Schicksal aller Menschen, vor allem der in der Geschichte Besiegten, erinnern. Sie markieren einen Gegensatz zwischen Geschichte und Kritik geschichtlicher Herrschaft sowie der Flucht in Mythologie und Innerlichkeit. Die mit dem Evangelium von der Wiederkunft des Menschensohns beginnende Adventszeit unterbricht den Lauf der Geschichte in ihrer leeren Wiederkehr des Gleichen. Die biblischen Texte wollen aufwecken und aufdecken, was Menschen bedroht. Die Hoffnungen, die sie erinnern, verweisen darauf, dass die Geschichte nicht einfach leer, sondern angefüllt ist mit Katastrophen. Deshalb bedarf es gegen das ‚Weiter so‘ und gegen den mythischen Kreislauf des ‚Stirb und Werde‘ einer Unterbrechung, die aufschreckt und wachsam macht. Sie zielt auf die Überwindung der gegenwärtigen kapitalistischen Herrschafts- und Vernichtungsverhältnisse und zugleich auf ein Ende der Geschichte, die sich in den Bildern von der Wiederkunft des Menschensohns als Hoffnung für alle Opfer in der Geschichte Ausdruck verschafft.
Wachsamkeit und ein apokalyptischer Schrei
Der Menschensohn kommt nicht ‚von innen‘, aus den mythologisierten Ur-Tiefen heilender Schichten der Seele, sondern ‚von außen‘. In ihm kommt jener Gott entgegen, der die Verhältnisse des Unrechts und der Gewalt aufheben will, statt den Tod in der mythischen Wiederkehr des Gleichen zu beschwichtigen und zugleich zu verewigen. Die Erinnerung an den Gott des Menschensohns beruhigt nicht, sondern lässt aufschreien angesichts der Katastrophen. Sie ist eine ‚gefährliche Erinnerung‘ weil sie die Verhältnisse, unter denen Menschen leiden, nicht nostalgisch in scheinbar besseren Zeiten verklärt oder religiös mythisch überhöht bzw. fundiert. Solche Erinnerung macht Gott nicht ‚dingfest‘. Sie kann seinen Namen weder definieren noch über ihn verfügen. Sie lässt Gott schmerzlich vermissen. Wurde noch zu Beginn der Corona-Krise die Frage der Theodizee, die Frage, wie Gott das Leid zulassen könne, gestellt, so scheint sie in der Gewöhnung an den Lauf der Dinge und angesichts individueller Aussichten, selbst durchzukommen, eher erledigt. Die Frage nach Gott angesichts des Leids und das Vermissen Gottes war für diejenigen, die sich wach den katastrophischen Verhältnissen stellen und ihre Herrschaftszusammenhänge aufzudecken versuchen, weder vor Corona erledigt noch jetzt. Sie artikuliert sich im Gebet, zu dem wir – mit einem Text von Johann Baptist Metz8 – zu Beginn der Corona-Krise ermutigt haben und es in diesem Advent wieder tun. Das Gebet ist Ausdruck dafür, dass sich Menschen nicht mit dem leeren und tödlichen ‚Lauf der Dinge‘ abfinden.
Bei Walter Benjamin heißt es: „Die Tora und das Gebet unterweisen […] im Eingedenken“9. Das Eingedenken als das Gedenken geschichtlicher Niederlagen und der Besiegten in der Geschichte lässt keine Ruhe. Gebet ist Ausdruck erwartender apokalyptischer Unruhe und apokalyptischen Widerspruchs gegen den Bann einer angepassten und apathischen Erwartungslosigkeit, die zur Legitimation dafür gerät, den Dingen resigniert ihren vernichtenden Lauf zu lassen. Dagegen steht das Gebet auf. Es hält wach, lässt aufmerken und hinsehen. Gegen angepasste Apathie macht es leidenschaftliche Erwartung stark und meldet Widerspruch an, den Dingen ihren leeren und vernichtenden Lauf zu lassen. Es „ist ein Ort des Widerstands, der ‚Unterbrechung‘, ein Ort des Aufstands gegen diese gnadenlose Kontinuität […]“10
Solches Beten bewegt sich in einem apokalyptischen Horizont. Es sagt nicht gehorsam Ja zu den Verhältnissen. Es beschwichtigt nicht und beruhigt nicht; es vertreibt auch keine Ängste, sondern ist eine Weise, mit Beunruhigung und Angst zu leben. Das den Verhältnissen verweigerte Ja gilt der Hoffnung auf das Kommen Gottes und seines Menschensohns. Und so stimmt es ein in den apokalyptischen Ruf nach dem Ende von Unrecht und Gewalt, nach dem rettenden Ende der Zeit, in den Ruf aus der Offenbarung des Johannes – auch Apokalypse genannt –: „Komm, Herr Jesus!“ (Offb 22,20).
Herbert Böttcher
1Johann Baptist Metz, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität einbricht, Freiburg im Breisgau 2011, 21.
2So wurde es – wie der Kölner Stadt-Anzeiger vom 21./22.11. 2020 berichtet – in Hassmails an Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, formuliert.
3Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften I,2, Frankfurt am Main 7/2015, 690-704, 701
4Ebd., 704.
5Ebd., 697.
6Ebd., 694.
7Ebd., 693.
8Metz, Ermutigung zum Gebet, in: Mystik (Anm. 1).
9Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, (Anm. 2), 704.
10Johann Baptist Metz, Ermutigung zum Gebet, in: Mystik (Anm. 1), 113.