1 Kor 13,4-7
4 Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. 5 Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. 6 Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. 7 Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.
In den ersten Versen (1 Kor 13,1-3) hat Paulus deutlich gemacht, dass Liebe/Solidarität nicht eine Sondertugend ist, sondern in allen Charismen als deren Grundlage lebendig ist. In 13,4-7 nennt er einzelne Aspekte. Sie sind nicht als ein überzeitlicher ‚Tugendkatalog‘ zu verstehen. Was gemeint ist, ergibt sich aus dem Kontrast der messianischen Gemeinde zur römischen Gesellschaft. Darauf verweist schon sprachlich der hohe Anteil verneinter Verben.
In den verneinten Verben in Vers 4 steht Liebe/Solidarität als ‚nicht eifern‘ gegen Konkurrenz und Streben nach Über- und Unterordnungen, als ‚nicht prahlen‘ gegen größenwahnsinniges Agieren, als ‚sich nicht aufblähen‘ gegen herrschaftliches Verhalten. Das, was hier verneint wird, ist „Produkt einer Welt, die von Gewalt gekennzeichnet ist. Wie stark Konkurrenz und Profilierung auf Kosten anderer der gesellschaftlichen Ordnung der römisch-hellenistischen Welt zugrunde liegen, macht Cicero in seinem Lob des Verhaltens von Jungen deutlich:
‚Wie groß ist der Eifer bei ihren Wettkämpfen! Wie wichtig sind die Wettkämpfe selbst! Wie jauchzen sie vor Freude, wenn sie gewonnen haben! Wie schämen sich die Unterlegenen! Wie ungern lassen sie sich beschuldigen! Wie stark ist der Wunsch, gelobt zu werden! Welche Mühen nehmen sie nicht auf sich, um an der Spitze ihrer Altersgenossen zu stehen! Wie gut ist ihr Gedächtnis für die Leute, die es gut mit ihnen meinten, und wie groß ihr Verlangen sich dankbar zu erweisen!‘
Dieses Verhalten wird den Jungen anerzogen und von erwachsenen Männern nach Möglichkeit praktiziert. Frauen ordnen sich solchen Strukturen zu, auch wenn sie sie meist nicht aktiv übernehmen.“1
Zudem war Selbstdarstellung im Auftreten und in der Rede ein in der römisch-hellenistischen Gesellschaft bekanntes Phänomen. Von solcher Großsprecherei setzt sich Paulus als Verkündiger der Weisheit Gottes, die im gekreuzigten Messias sichtbar wird, ab (1 Kor 2,1-5).
Gegen das, was in den Verben verneint wird, stellt Paulus die Langmut und Güte Gottes wie sie im Ersten Testament bezeugt ist: vgl. z.B. Ex 34,6-7.
Auch die in Vers 5 verneinten Verben verweisen auf die römisch-hellenistische Gesellschaft. „Nicht ungehörig handeln“ meint ziemlich wörtlich ‚unschamhaft‘ handeln. Gemeint sind nicht Verstöße gegen die Normen der katholischen Sexualmoral, sondern ein Handeln, das sich vom menschenverachtenden Umgang mit Sexualität in der römisch-hellenistischen Gesellschaft unterscheidet. In der Hafenstadt Korinth war Prostitution ein im Alltag präsentes Phänomen. „Auf der Schattenseite dieser gewalttätigen gesellschaftlichen Praxis leben Frauen, Kinder und Männer, die beliebig penetriert werden dürfen.“2 Viele der Prostituierten sind Sklavinnen. Nicht nur in Bordellen, sondern auch in Häusern der Reichen wurde gewalttätige Sexualität praktiziert. „Es ist für die Menschen der korinthischen Gemeinde anzunehmen, dass die Männer es gewohnt waren, sich für billiges Geld Frauen zu kaufen, und die Frauen zu einem großen Teil Erfahrungen damit hatten, sich zu prostituieren.“3
„Nicht den Vorteil suchen“ dürfte mit der Suche nach finanziellen Vorteilen zu tun haben, sich „nicht zum Zorn reizen lassen“ mit der Verführung durch aufgeheizten Hass gegen einzelne Menschengruppen, „nicht Böses nachtragen“ gegen das Festlegen von Menschen auf das, was sie Böses getan haben.
Vers 6 erinnert an den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Wahrheit, den die Solidarität einschließt. Dies entspricht zum einen der jüdischen Tradition (vgl. z.B. Jes 11,5; Ps 36,6-7) und steht zugleich im Kontrast zur römischen Gesellschaft. Ihr wirft Paulus ja vor, „die Wahrheit Gottes mit der Lüge“ (Röm 1,25), „die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die einen vergänglichen Menschen (nämlich den Kaiser) … darstellen“ (Röm 1,23), vertauscht zu haben. Diese Perversion zieht eine Reihe weiterer Perversionen nach sich (Röm 1,26ff).
Vers 7 greift den Zusammenhang der Dimensionen von Glaube, Hoffnung und Liebe auf, von denen die Liebe/Solidarität am größten ist (1 Kor 13,13). Sie ist die tragende Dimension des Glaubens und der Hoffnung. Sie „(er)trägt alles … und hält allem stand“ (V. 7); sie ist Ausdruck von Ausdauer und Widerstandskraft bis hin zum Martyrium.
1Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, hgg. von Ekkehard W. Stegemann, Luise Schottroff, Angelika Strotmann, Klaus Wengst, Stuttgart 2013, 26.
2Ebd., 116.
3Ebd., 117.