1 Kor 13,8-13
8 Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. 9 Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; 10 wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk. 11 Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war. 12 Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. 13 Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
Die letzten Verse des sog. ‚Hohen Liedes der Liebe‘ rücken das ‚Ende‘ in den Blick. Für Paulus ist es das Kommen des Vollendeten (V. 10). Es ist verbunden mit einem anderen Erkennen Gottes: Es ist nicht mehr „Stückwerk“ (VV. 10,12), nicht mehr „Sehen … in einen Spiegel“, das auf „rätselhafte Umrisse“ (V. 12) beschränkt bleibt, sondern „Schauen von Angesicht zu Angesicht“ (V. 12).
Das mag – je nach Gefühlslage – romantisch überhöht oder versponnen klingen. Das ändert sich aber, wenn wir die negative Seite wahrnehmen, als das, wogegen Paulus redet. Luise Schottroff stellt heraus, dass der Text von Antithesen – also von Gegenreden – durchzogen ist. Sie formuliert die Gegensätze in ihrer eigenen Übersetzung:
„‘niemals aufgeben‘ (V. 8) – ‚aufhören‘ (V. 8) (‚zu Ende gehen‘ V. 8, ‚Bruchstücke erkennen‘ V. 9)
‚die Vollkommenheit‘ (V. 10) – ‚Bruchstücke‘ (V. 9, 10, 12)
‚erwachsen‘ – ‚Kind‘ (V. 11)
‚jetzt‘ (… V. 12 … ) – ‚dann‘ ( … V. 12)“1
Die Antithesen erschließen sich am besten aus dem Gegensatz von ‚Jetzt‘ und ‚Dann‘. Das ‚Jetzt‘ ist „das ‚Jetzt‘ unter den Bedingungen des Infernos“2. Gemeint sind die Lebensbedingungen von Menschen unter der Herrschaft des römischen Imperiums – erst recht, wenn sie sich seiner Herrschaft widersetzten. Paulus beschreibt sie mit den Stichworten „Bedrängnis“, „Not“, „Verfolgung“, „Hunger“, „Kälte“, „Gefahr“, „Schwert“ (Röm 8,35) und fügt hinzu: „Wie geschrieben steht: Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat“ (Röm 8,36).
„Jetzt“, in dieser Situation „bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe“ (V. 13). Sie gelten „Jetzt“ und werden durch die Verhältnisse nicht dementiert. „Jetzt“ bewährt sich der Glaube, das Vertrauen auf Israels Gott, die Hoffnung, dass er seine Verheißung wahr machen wird, „jetzt“ bewährt sich Liebe als Solidarität. Mit dem „Dann“ kommt die Zukunft ins Spiel, das Kommen Christi am Ende der Zeit (1 Kor 1,6), wenn er alle Herrschaft und Gewalt und mit ihnen auch den Tod „als der letzte Feind“ (1 Kor 15,26) entmachtet hat, „damit Gott alles in allem sei“ (1 Kor 15,28). Die Hoffnung auf das „Dann“ wird im „Jetzt“, unter den Bedingungen des „Infernos“, gelebt. Damit das möglich ist, hat Gott es an keiner „Gnadengabe“ (1 Kor 1,6) fehlen lassen.
Mit dem „Jetzt“ und „Dann“ kommen Zeitvorstellungen ins Spiel, die sich von den bei uns üblichen unterscheiden. Dass ein „Ende der Zeit“ möglich sein soll, ist vielen eher fremd – um so mehr als sich viele nicht einmal ein Ende des Kapitalismus verstellen können. Eher verbreitet ist – als Fernwirkung von Nietzsche – die Vorstellung von der Ewigkeit der Zeit, die sich mit der Mythologie von der ewigen Wiederkehr des Gleichen auflädt und gut kompatibel mit Vorstellungen von ‚Wiedergeburt‘ (was ja im Hinduismus nicht Erfüllung des Lebens, sondern Strafe zur Bewährung) zu sein scheint. Es ist eine leere Zeit ohne Verheißung, eine „Zeit ohne Finale“, wie Johann Baptist Metz immer wieder betont hat.
Luise Schottroff befürchtet, dass die Fülle der Liebe, die „Jetzt“ möglich ist, durch einen „Dualismus von Geschichte und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits“3 abgewertet werden könne. Deshalb will sie den Messias als den Gegenwärtigen und den Kommenden, das „Jetzt“ und das „Dann“ im „Jetzt“ verstehen. Letztlich läuft das auf eine ‚präsentische Eschatologie‘ hinaus, in der im „Jetzt“ alles schon da ist. Undeutlich bleibt, was im ‚Jetzt‘ noch aussteht. Alles ist jetzt schon da im Modus der Auferweckung des Gekreuzigten. Aber es steht noch aus, dass die Befreiung, die Gott an ihm hat Wirklichkeit werden lassen, für alle einschließlich der Toten Wirklichkeit wird. Deshalb steht auch das Finale als befreiendes Ende für alle noch aus. Dies wiederum ist nur vorstellbar, wenn ein Ende der Zeit denkbar ist und Gott sich als derjenige erweist, der mit der Schöpfung auch die Zeit erschaffen hat und sie mit dem Finale in einer neuen Schöpfung auch beendet.
Mit Metz wäre Gott, der Schöpfer, zu verstehen „als das der Zeit zukommende, das sie befristende Ende…“ Mit der Ewigkeit der Zeit ginge die Leidensgeschichte weiter. Und selbst wenn es zur durchaus möglichen Überwindung von Unrecht und Gewalt kommen könnte, blieben die Opfer vergangenen Unrechts tot. Wenn sich Theologie nicht in ‚heillose‘ Widersprüche verstricken und am Ende nicht doch in Vorstellungen von der Verschmelzung der Menschen mit einer ‚göttlichen‘ Natur enden soll, ist es in der Erinnerung der Geschichte als Leidensgeschichte sinnvoll und im Blick auf die Rettung der Opfer der Gewaltgeschichte auch ‚notwendig‘ Gottes Schöpfermacht als „Befristungsmacht“ zu denken, „als zukommendes Ende der Zeit, in dem allein sich erweisen wird, was sie ‚ist‘ und wie sie uns ‚hält‘“4. Das dieses Denken – im Gegensatz zu den Vorurteilen der ‚Aufgeklärten‘ – sehr wohl mit naturwissenschaftlich-mathematischem Denken kompatibel ist bzw. mit ihm konvergiert, hat Kuno Füssel eindrucksvoll deutlich gemacht5.
Zu den Versen im Einzelnen
VV. 8.9:
Wenn Paulus davon spricht, prophetisches Reden habe ein Ende und Erkenntnis vergehe, wertet er beides nicht gegenüber der Liebe als einem vermeintlich ‚Eigentlichen‘ ab. Er spricht aus der Erfahrung des römischen „Infernos“. Angesichts seiner strukturellen Gewalt stößt prophetische Rede auf deren Grenzen. Sie ist durch „Gefahr oder Schwert“ (Röm 8,35) der Zerstörung (so die wörtliche Formulierung bei Paulus) ausgesetzt. Die Grenze der Erkenntnis wird erreicht, wenn in der Vergöttlichung des Kaisers Gott und Götzen, Wahrheit und Lüge vertauscht werden (Rom 1,18ff). Aber auch dann hört „die Liebe … niemals auf“ (V. 8). Sie bleibt als Treue Gottes zu denen, die im römischen Imperium auf Grenzen der Macht stoßen.
V. 10:
Wenn die Vollendung kommt, „vergeht alles Stückwerk“, wörtlich: wird alles Stückwerk (als das sich die römische Herrschaft dann erweist) zerstört.
V 11:
Wenn Paulus von Kindheit spricht, dürfte er nicht an den ‚mündigen‘ Erwachsenen im Unterschied zum ‚unmündigen‘ Kind gedacht haben. Er benutzt wieder das Verb ‚zerstören‘. Deshalb übersetzt Luise Schottroff: „Als ich erwachsen wurde, wurde zerstört, was kindlich war“6 und kommentiert: „Der Erwachsene zerstört“ die Kindheit, „bringt Kindersprache und Kinderverstand zum Verschwinden. Wie schnell mussten Kinder, zumal die Kinder der armen Bevölkerungsmehrheit, erwachsen werden und für ihr Brot arbeiten.“7
V. 12:
Mit den Gegensätzen vom Sehen rätselhafter Umrisse „in einem Spiegel“ und dem „Schauen … von Angesicht zu Angesicht“, von Erkenntnis in Stückwerken und gegenseitigem „durch und durch“ Erkennen greift Paulus biblische Zusammenhänge auf. Mit Mose und mit Jakob redet Gott „von Angesicht zu Angesicht“ (Ex 33,11; Dtn 34,10; Gen 32,31). Nach Num 12,6-8 redet Gott mit Mose „von Mund zu Mund … in einer Vision, nicht in Rätseln“. Es gibt Situationen, die als authentische Zeugnisse des Redens von Gott besonders hervorgehoben werden. Das, was in diesen Situationen aufgeblitzt ist, wird am Ende allen zuteil werden.
V. 13:
Paulus formuliert, was angesichts der schrecklichen Verhältnisse bestehen bleibt: Glaube, Hoffnung, Liebe. Damit sind die anderen Gnadengaben nicht abgewertet, sondern auf die Grundlage von Glaube, Hoffnung und Liebe gestellt. Als Ausdruck der Treue Gottes, der Solidarität mit seinem Volk und der Solidarität untereinander, ist sie die ‚größte‘ Kraft – wiederum nicht in dem Sinne, dass sie als eigene Kraft den anderen überlegen wäre, sondern als deren kraftvolle Wurzel. Das alles gilt ‚jetzt‘. Gottes Macht ist gegenwärtig „mitten im Inferno, in dem Vertrauen, (dass) Hoffnung und Liebe schützen und fähig machen, ihre Kraft auch zu leben“8.
1Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Herausgegeben von Ekkehardt Stegemann, Luise Schottroff, Angelika Strotmann, Klaus Wengst, Stuttgart 2013, 261 f.
2Ebd., 263.
3Ebd., 23, vgl. auch 263.
4Johann Baptist Metz, Theologie als Theodizee? In: Wille Oelmüller (Hrsg.), Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, 103-118, 118.
5Vgl. Kuno Füssel, Gott in Zeit. Die Gottesfrage als Grundfrage der politischen Theologie, in: Philipp Geitzhaus, Michael Ramminger (Hg.), Gott in Zeit. Zur Kritik postpolitischer Theologie, Münster 2018, 179-210.
6Luise Schottroff, 262.
7Ebd., 264.
8Ebd., 265.