Auslegung zum Evangelium des 4. Sonntags der Osterzeit

Joh 10,1-10

1 Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2 Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. 3 Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. 4 Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. 5 Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. 6 Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. 7 Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. 8 Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. 9 Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. 10 Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.

Es gibt kaum einen messianischen Text, der so viel Anlass zum christlichen Kitsch gab wie Joh. 10, bekannt unter dem Titel „Der gute Hirt“. Tatsächlich aber wird Johannes nirgends ‚politisch’ so deutlich wie hier. Wenn es für Israel eine zentrale Institution gab, dann war es der Tempel – der Tempel als der Ort, wo Israel sich als Volk Jahwes erfahren sollte. Hier fand es seine Identität. Hier wurde Israels große Erzählung lebendig: dass es im Namen Jahwes keinem eisernen Zwang, keinem Schicksal unterworfen ist, sondern prinzipiell frei ist, das heißt ohne Sklaven und dementsprechend ohne Herren ist, eine ‚klassenlose’ Gesellschaft. Gott hat seine Solidarität mit den versklavten Hebräern in Ägypten gezeigt und ihnen den Weg in die Freiheit eröffnet, hat Israel aus der Gefangenschaft Babylons erlöst. Israel kann Jahwe und seine Treue zu ihm nur auf den Wegen der Befreiung erfahren. Da hat Jahwe ihm seine Nähe an- und zugesagt. Das alles ist dargestellt im Tempel mit seinem großen Vorhof, auf dem Israel sich immer um seinen Gott versammelt. Wenn in unserem Evangelium vom Schafstall die Rede ist, dann ist damit der Tempel gemeint – dieser Ort erinnert Israel an Gottes Zusage: ich werde unter euch sein auf den Wegen der Befreiung. Das ist die Tür zum wahren Leben, einem Leben in Freiheit und gegenseitiger Achtung.

Im Messias Jesus ist Israels Gott auch in der Welt des römischen Imperiums wirksam geworden. Dieser Jesus, der sein ganzes Leben auf Jahwe ausgerichtet hat, der also niemals sein Leben im Dienste Roms einrichten konnte, wurde von der Macht Roms aufs Kreuz gelegt, aber Gott hat seinem Leben Recht gegeben, er hat ihn aufgerichtet. Er, der seinem Vater treu war, erfuhr ebenfalls die Treue des Vaters zu ihm. Er und sein Vater sind eins.

Die Zugehörigkeit zum Gott Israels und zum Messias Jesus bedeutet: den Weg der Befreiung gehen, sich von den Systemen des Unrechts und der Gewalt trennen, von Ägypten, von Babylon, von Rom. Da kann es keine Kompromisse geben. Kompromisse mit diesen Ordnungen sondern sich vom Messias und seinem Gott ab. Kompromisse werden nicht mehr Gott und den Versklavten gerecht, sondern versuchen, den Forderungen der Mächtigen gerecht zu werden und verlassen damit den Weg der Befreiung, den Weg des Messias. Jeder Kompromiss bedeutet hier den Verrat an der Tora als Weg in die Freiheit. Für die Messianer war nicht das andere Leben in einer schlechten Welt, sondern ein Leben in einer befreiten Welt die Lösung für ein gerechtes Leben vor Gott. Leben in einer anderen, irdischen Welt ist die ursprüngliche Bedeutung dessen, was in christlichen Kreisen „ewiges Leben“ heißt.

Unbeirrbar besteht Johannes darauf, zwischen dem befreienden Gott Israels, dessen Wahrheit der Messias Jesus verkörpert, und den Götzen des Imperiums, die Menschenopfer fordern, zu unterscheiden. Das war auch der Konflikt der Johannes-Gemeinde mit den Verantwortlichen der Synagoge. Die Rabbiner schlossen die Messianer aus der Synagoge aus, um mit Rom in Frieden leben zu können. Für Johannes bedeutet das: Verrat am Befreiergott Jahwe.

 

Wir feiern heute den Tag der geistlichen Berufe oder weiter gedeutet: Unsere Berufung. Was macht Kirche aus, woher lebt sie, damit sie Zeuge des Befreiergottes sein kann.

Theologie heißt Rede von Gott. Erspart sich die Kirche Theologie, erspart sie sich Gott. Die biblische Rede von Gott lässt sich nicht so einfach auf privates Glück und dessen Kehrseite – das Vergessen der Unglücklichen – instrumentalisieren.

Die biblischen Glücksverheißungen gelten gerade den Unglücklichen, denen, die unter der Herrschaft fremder Mächte nach Rettung und Befreiung schreien. Die Bibel erzählt von Gottes Versprechen, Wege der Befreiung aus Unrecht und Leid mitzugehen; nicht zu entlasten, um es in Ägypten aushaltbar zu machen, sondern aus der Macht Ägyptens zu erlösen. Sie erzählt von Jesus aus Nazareth und dessen Leiden und dass Gott ihn erhöht hat, sie erzählt davon, dass die Toten auferstehen. Die Zukunft der Kirche entscheidet sich an dieser Spiritualität. Sie entscheidet sich an der Frage, ob sie aus dem Geist der großen Erzählung lebt, der da sagt: Im Namen Gottes sind Autonomie und Gleichheit aller Menschen das Ziel einer jeden gesellschaftlichen Ordnung.

Christentum sollte uns nahe sein durch seine Inhalte, aber auch durch die Unbescheidenheit seiner Versprechungen und Ansprüche. In dieser unverschämten Sprache sagt es: die Toten werden leben, die Tyrannen gestürzt. Es nennt den Namen Gottes und sieht sich verbunden mit der Geschichte und dem Schicksal Jesu.

Kirche geht es nicht um sich selbst – es geht ihr um Menschen in Not, um die Nachfolge Jesu, um Gott als Vater aller Menschen. Sie widerspricht der Hoffnungslosigkeit der Welt und gibt dem Letzten in Gottes Namen eine Chance.

Im Gegensatz zu diesen biblischen Inhalten versucht die Trierer Synode durch marktförmige Strategien das Verlorengehen kirchlicher Einflussnahme zu stoppen bzw. wiederzugewinnen. Sie zielen darauf, das System Kirche für seine ‚Umwelten’ anschlussfähig zu machen, das heißt: Kirche soll auf die Höhe der Zeit gebracht werden. Dabei sind die Umwelten immer schon affirmiert und normativ gesetzt. In diesem Rahmen kann es nur Anpassung an die Umwelten als Überlebensstrategie geben, da die Frage nach der gesellschaftlichen Totalität wegen der Individualisierung nicht gestellt werden kann. In der Sprache der Synode des Bistums Trier heißt das: die Charismen als Geistesgaben der Einzelnen haben Vorrang vor Aufgaben, die von außen gestellt werden. Dass diese Geistesgaben in einer ‚unternehmerischen Kirche’ nicht Gaben des Heiligen Geistes, sondern Gaben aus dem ‚Geist des Kapitalismus’ sind, bleibt unreflektiert.

Wie dies dann konkret aussieht, dazu ein Zitat aus der Rhein-Zeitung vom 24. April 2020: „Die Musikkirche-Live versteht sich nicht nur als Veranstalter eines Gottesdienstes, der alle 2 Monate stattfindet, sondern als eine Themengemeinde. Sie soll mit ihrem speziellen Profil Menschen neu auf den christlichen Glauben ansprechen. Die Vergemeinschaftung geschieht nicht über territoriale Zugehörigkeit zu einer Pfarrgemeinde, sondern durch Menschen, die sich durch diese Gottesdienstform mit moderner Alltagsmusik angesprochen fühlen. Ein weiteres Ziel des Projektes ist es, die Kirche umzugestalten. Die Organisatoren können sich eine Kaffeetheke oder einen Bereich mit Wohnzimmeratmosphäre für kleine Konzerte vorstellen.“

Welch eine tolle Vision vom Reich Gottes.