‚Politische Theologie‘ – nicht ohne ‚kritische Theorie‘

Politische Theologie als kritisches Korrektiv gegen Privatisierung

Die gestern (22.4.2020) kritisierten theologischen Sinnstiftungen sind nicht erst mit der Corona-Krise entstanden. In ihnen spiegeln sich die theologischen Tendenzen, gegenüber denen J.B. Metz seit Ende der 1960er Jahre seine gesellschaftskritische ‚politische Theologie‘ „als kritisches Korrektiv gegenüber einer extremen Privatisierungstendenz gegenwärtiger Theologie“1 formuliert:

„Die in dieser Theologie vorherrschenden Kategorien zur Auslegung der Botschaft sind vorzüglich Kategorien des Intimen, des Privaten, des A-Politischen. Die Liebe, wie alle Phänomene des Zwischenmenschlichen, werden zwar emphatisch herausgestellt, sie kommen jedoch von vornherein und wie selbstverständlich nur in ihrer privaten, entpolitisierten Gestalt zur Geltung: als Ich-Du-Beziehung, als interpersonales Begegnungsverhältnis oder als Nachbarschaftsverhältnis. Die Kategorie der Begegnung dominiert. Als eigentliche religiöse Aussageweise gilt die zwischenpersonale Anrede, als eigentliche religiöse Erfahrungsdimension gilt die Spitze der freien Subjektivität des einzelnen oder die unverfügbare sprachlose Mitte der Ich-Du-Beziehung. Den heute vorherrschenden Formen der transzendentalen, existentialen und personalistischen Theologie scheint eines gemeinsam zu sein: der Trend zum Privaten.“2

Ähnliche Tendenzen wie Metz in der Theologie hatte Theodor W. Adorno in seiner „Negativen Dialektik“3 in der Philosophie kritisiert: die mit Heideggers Seinsmythologie verbundene Existenzialisierung, einen das Ich-Du-Verhältnis überhöhenden Personalismus, eine über alle Objektivität erhabene Philosophie des Subjekts, ein Denken, in dem Geschichte in Geschichtlichkeit verschwindet…

Antriebskraft dieser Kritik ist das Leiden von Menschen. „Das Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“4 Das Leiden von Menschen gibt ‚zu denken‘. Alle Erkenntnis, die ‚jenseits‘ des Leidens und der Verhältnisse, die Leiden lassen, gedacht wird, ist ‚unwahr‘, weil Ausdruck ‚unwahrer Verhältnisse‘. Subjektives und objektives Leiden werden in ihrer Vermittlung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedacht. „Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“5 Nur in dieser Vermittlung subjektiven Leidens mit der Objektivität der Verhältnisse kann erst erfasst werden, was die Einzelnen erleiden.

Politische Theologie mit eschatologischem Fokus der Rettung

Das zweite Element, mit dem Metz seine politische Theologie charakterisiert hatte, war positiv der „Versuch, die eschatologische Botschaft unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft zu formulieren.“6 Die „Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft“ erkennt Metz als Leben und Denken „nach Auschwitz“, wobei Auschwitz nicht exklusiv gemeint ist, sondern im Zusammenhang der Katastrophengeschichte der Moderne gesehen wird. In diesen Zusammenhängen rückt die Theodizeefrage ins Zentrum der Theologie. Hier sei das Zitat von gestern noch einmal wiederholt:

„Im Bewußtwerden der Situation ‚nach Auschwitz‘ drängte sich mir die Gottesfrage in ihrer merkwürdigsten, in ihrer ältesten und umstrittensten Version auf, eben in der Gestalt der Theodizeefrage, und das nicht in existentialistischer, sondern gewissermaßen in politischer Fassung: Gottesrede als Schrei nach der Rettung der Anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte. Wie auch könnte man, so wurde mir deutlich, ‚nach Auschwitz‘ ohne diese Frage nach der eigenen Rettung fragen! Die Gottesrede ist entweder die Rede von der Vision und der Verheißung einer großen Gerechtigkeit, die auch an diese vergangenen Leiden rührt, oder sie ist leer und verheißungslos – auch für die gegenwärtig Leidenden. Die dieser Gottesrede immanente Frage ist die Frage nach der Rettung der ungerecht Leidenden. Die sie leitende Wahrheit weiß sich allein im dezidierten Widerspruch gegen jede Form leidschaffender Ungerechtigkeit.“7

Im Brennpunkt steht die Frage nach der Rettung „der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte“. Darin zeigt sich die Nähe der ‚politischen Theologie‘ zu den biblischen Traditionen, die nicht abstrakt von ‚dem Menschen‘ sprechen, sondern den Blick vor allem auf die Armen und Versklavten und ihren Schrei nach Rettung richten. Vor diesem Hintergrund nennt Metz Israel eine „Landschaft aus Schreien“8. Zu ihr gehört der Schrei Jesu am Kreuz (Mt 27,46; Mk 15,34). Die an Israels „Landschaft aus Schreien“ gebundene Rede von Gott („Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen … und ihre laute Klage … gehört“, Ex 3,7) „enthält ein Versprechen: das Versprechen der Rettung, gepaart mit dem Versprechen universaler Gerechtigkeit, die auch die vergangenen Leiden rettend einschließt“9.

Und auch hier wieder eine Nähe zu Adornos ‚Negativer Dialektik‘: Adorno spricht von der

„Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern auch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“10.

Diese „Erfahrung“ ist „kein Argument“11. Sie leitet die „Idee einer Verfassung der Welt“, von deren Erfahrung sie spricht, nicht aus einem Prinzip ab. Sie entzieht sich dem Identitätszwang, dem Zwang, das Leiden und die Rettung der Leidenden auf einen alles klärenden Begriff zu bringen. Auch der Rückgriff auf einen „ausweglos geschlossene Immanenzzusammenhang bliebe dem alles klären wollenden Identiätsprinzip verhaftet. Der verstörte und beschädigte Weltlauf ist … inkommensurabel auch dem Sinn seiner reinen Sinnlosigkeit und Blindheit, nicht stringent zu konstruieren nach diesem Prinzip. Er widerstreitet dem Versuch verzweifelten Bewußtseins, Verzweiflung als Absolutes zu setzen“12.

Ein Psalm, der als Schrei nach Gott gelesen und gebetet werden kann, ist auch der Psalm 43:

1 Verschaff mir Recht, Gott, und führe meinen Rechtsstreit gegen ein treuloses Volk! Rette mich vor den bösen und tückischen Menschen! 2 Denn du bist der Gott meiner Zuflucht. Warum hast du mich verstoßen? Warum muss ich trauernd umhergehn, vom Feind unterdrückt? 3 Sende dein Licht und deine Wahrheit; sie sollen mich leiten; sie sollen mich bringen zu deinem heiligen Berg und zu deinen Wohnungen. 4 So will ich kommen zu Gottes Altar, zum Gott meiner Freude und meines Jubels. Ich will dir danken zur Leier, Gott, du mein Gott. 5 Was bist du bedrückt, meine Seele, und was ächzt du in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, der Rettung meines Angesichts und meinem Gott.

 

Herbert Böttcher

 

1Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz 1968, 99.

2Ebd., 101.

3Theodor W.Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt am Main 2003.

4Ebd., 29.

5Ebd.

6Metz, Theologie der Welt, 99.

7Johann Baptist Metz, Theologie als Theodizee?, in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, 103 – 118, 104.

8Ders., Theodizee-empfindliche Gottesrede, in: Johann Baptist Metz (Hg.), „Landschaft aus Schreien“ zur Dramatik der Theodzeefrage, 81 – 102, 85ff.

9Ebd., 91.

10Adorno, Negative Dialektik, 395.

11Ebd.

12Ebd.