Ostern und die Apostelgeschichte

Durch die Lesungen der Gottesdienste in der Osterzeit ziehen sich wie ein roter Faden Texte aus der Apostelgeschichte. Von der Dramatisierung dessen, was sie erzählt, ist auch das Kirchenjahr bestimmt. Es sind vierzig Tage bis zur Himmelfahrt und noch einmal zehn Tage bis Pfingsten. Inhaltlich geht es darum, sich darauf zu besinnen, was die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten für den Weg der messianischen Gemeinde, für ihre Sendung zu bedeuten hat. Das wird bereits im Prolog zur Apostelgeschichte deutlich:

Apg 1,1-3

1 Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat, 2 bis zu dem Tag, an dem er in den Himmel aufgenommen wurde. Vorher hat er den Aposteln, die er sich durch den Heiligen Geist erwählt hatte, Weisung gegeben. 3 Ihnen hat er nach seinem Leiden durch viele Beweise gezeigt, dass er lebt; vierzig Tage hindurch ist er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen.

 Mit dem Hinweise auf das „erste Buch“ knüpft Lukas an sein Evangelium an. Darin hat er erzählt, „was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat“ (V. 1). Gemeint ist Jesu Praxis des Reiches Gottes, die er in seiner Lehre gedeutet hat. Mit Lehre ist die Tora gemeint, die Erzählung der Befreiung und die damit verbundene Weisung für Israels Wege der Befreiung. Darin war all das verwurzelt, was der Messias „getan und gelehrt hat“. Aus dieser Verwurzelung heraus deutet Lukas auch Jesu Auferstehung.

Sein Evangelium erzählt Lukas „bis zu dem Tag, an dem er in den Himmel aufgenommen wurde“ (V. 2). Aufgenommen ist damit ein Satz gegen Ende des Evangeliums: „Und siehe, ich werde die Verheißung meines Vaters auf euch herabsenden. Ihr bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet“ (Lk 24,49). Das Wort, das die Einheitsübersetzung mit „bleiben“ wiedergibt, heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung ‚sitzen‘. Dann wäre der Satz so zu verstehen: Bleibt zunächst einmal in Jerusalem ‚sitzen‘. Das sollen sie „vierzig Tage“ (V. 3). In dieser Zeit hat sich Jesus ihnen zu sehen, zu erkennen gegeben. Das ‚Sehen‘ Jesu wird also bezogen auf die jüdische Tradition: auf Jerusalem, von dem sich die messianische Bewegung nicht loslösen soll, und auf die 40 Jahre der Wüstenwanderung nach der Befreiung aus Ägypten. Das ‚Sitzen‘-bleiben dürfte darauf anspielen, dass Israel sich vierzig Jahre am Horeb aufgehalten hatte (Dtn 1,6). Im „vierzigsten Jahr“ (Dtn 1,3) hält Mose die Rede zum Aufbruch in das Land der Verheißung. Darin fasst er die „Lehre“ der Tora zusammen. Jerusalem symbolisiert diese Verheißung. Und genau darin soll die messianische Gemeinde ‚verwurzelt‘ bleiben.

Dies gilt um so mehr, da zur Zeit des Lukas Jerusalem von den Römern zerstört am Boden liegt und Juden in alle Welt zerstreut sind. Für diejenigen, die ihre Hoffnung auf den Messias Jesus setzen, heißt das: Auch nach seiner Auferstehung kam nicht das Reich Gottes. Statt dessen ging die Herrschaft Roms weiter und zeigte sich in seiner bisher für die Juden schrecklichsten Variante: der Vernichtung Jerusalems und des Tempels, des Symbols und Zentrums ihrer Hoffnung sowie der Zerstreuung im römischen Reich.

Was tun? Für Lukas gilt es, die alten Wege der Befreiung, ihre Lehren und Weisungen neu durch zu buchstabieren, sich ihrer zu erinnern und zu fragen, was sie in dieser Katastrophe zu bedeuten haben. Zu lernen ist, wie der Messias Jesus aus dieser Erinnerung zu verstehen ist und wie sein Weg weitergegangen werden kann. Seine Himmelfahrt ist keine, die von Gesängen des Triumphs begleitet ist, sondern ein Wegnehmen. Genau so kann der im Griechischen verwendete Begriff  verstanden werden. Er schillert zwischen Aufnehmen und Wegnehmen. Das Wegnehmen dürfte die Situation der Jüngerinnen und Jünger am ehesten zum Ausdruck bringen: Sie fühlen sich von ihrem Messias verlassen. Sie vermissen ihn und wissen nicht, wie es ohne seine leibhaftige Gegenwart weitergehen soll.

In diese Situation hinein erinnert Lukas an das vierzigjährige Lernen, das Israel in der Wüste durchmachen musste, bis es in das Land der Verheißung einziehen konnte. Da die Zeit angesichts der Zerstörung aber drängt, wird die Lernzeit auf vierzig Tage verkürzt. In diesen Tagen gibt sich Jesus den ‚Sitzen-Gebliebenen‘ zu sehen und erinnert sie an seine Praxis und Lehre vom Reich Gottes (V. 3). Das alles gilt es angesichts der Katastrophe neu zu lernen. Was Jesu Leben bedeutet, lässt sich angesichts der Katastrophe nicht in ‚zeitlosen‘, ewig gültigen Wahrheiten und Werten aussagen. Sie abstrahieren ja von den mit der Katastrophe verbundenen Leiden der Menschen, vor allem der Juden und machen die Katastrophe unsichtbar. Sie verschwindet in der ‚Zeitlosigkeit‘. Die „vielen Beweise“, von denen Lukas spricht und die mit dem Erscheinen des Auferstandenen verbunden waren, sind – darin stimmt er mit Johannes 20,24-28 (Erzählung vom ‚ungläubigen‘ Thomas) überein – seine Wundmale: „Seht meine Hände und Füße an…“, heißt es Lk 24,39ff. ‚Identitätsmerkmal‘, Erkennungszeichen des Auferstandenen sind seine Wunden. So bleibt er auch als der ‚Auferstandene‘ mit der Geschichte, in der gekreuzigt und gefoltert, sinnlos gestorben wird, verbunden.

Von Jesus neu zu lernen ist also, was ‚Reich Gottes‘ angesichts der Katastrophe bedeutet. Mit seiner Rede vom Reich Gottes greift Jesus – der ‚historische‘ wie der auferstandene – eine zentrale Tradition Israels auf. Der Lobgesang der Mirjam nach der Rettung am Schilfmeer (Ex 15,1-18) mündet ein in den Lobpreis: „Der Herr ist König für immer und ewig“ (15,18). Seine Macht ist Macht der Befreiung. Sein Reich zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es die Macht der Mächtigen und die Strukturen der Macht negiert. Dafür steht der gekreuzigte und auferweckte Messias. Er aber ist – so sieht es Lukas – ‚hinweg genommen‘, während die Katastrophe allgegenwärtig, gleichsam omnipräsent und omnipotent ist.

Der Messias und Gottes Reich werden schmerzlich vermisst. Ihr Vermissen artikuliert sich auch bei Lukas im Gebet. „Dein Reich komme“ (Lk 11,2), hat Jesus zu beten gelehrt. Darin geht es um alles, nämlich um Gott selbst. Wer um das Reich bittet, bittet um nicht weniger als um Gott. Wenn Gott uns mit seinem Reich entgegen kommt, dann hat er uns alles gegeben. Wer Gott um Gott und sein Reich bittet, bleibt unangepasst und unruhig. Er kommt erst zur Ruhe (des Sabbat), wenn alles erfüllt ist, wenn – wie Paulus schreibt – die Macht des auferstandenen Gekreuzigten alle Mächte und Gewalten überwunden hat und „Gott alles in allem“ (1Kor 15,28) sein wird.

Dies im Widerspruch zur Herrschaft Roms zu bezeugen, werden die Jüngerinnen gesandt. Das macht sie zu Aposteln – sie alle nicht nur „die Zwölf“. Bei Lukas ebenso wie bei Paulus bleiben „die Zwölf“ als Ausdruck der Verwurzelung in den zwölf Stämmen Israels zwar wichtig. Der Begriff Apostel wird aber nicht darauf beschränkt. Apostel sind alle, die gesandt sind, angesichts der Herrschaft Roms, die jede widerborstige Hoffnung auszulöschen scheint, Zeugnis zu geben von der Auferweckung des gekreuzigten Messias aus Israel. Dazu sind sie „durch den Heiligen Geist erwählt“ (Apg 1,2). Wie der Messias selbst sind sie in der Kraft des Geistes von Israels Gott gesandt, Armen das Evangelium zu verkünden, Gefangene zu befreien… auszurufen ein Gnadenjahr des Herrn als die Zeit der Befreiung. So hatte Lukas (4,16ff) in Anlehnung an Jes 61,1f die Sendung des Messias beschrieben.

Bis es zur Sendung der Apostel, als Sendung aller, die dem gekreuzigten und auferweckten Messias vertrauen, kommt, wird noch etwas Zeit vergehen: 40 Tage, in denen noch einmal die Lektion vom Reich Gottes zu lernen ist, und nach Jesu ‚Hinwegnahme‘ in den Himmel (Apg 1,9-12) noch einmal zehn Tage, in denen sie sich – versammelt in Jerusalem – betend in Israels Gott und seine abgründigen Wege der Befreiung vertiefen bis „die Tage der fünfzig erfüllt sind“ – wie Lukas wörtlich die sog. Pfingstgeschichte (Apg 2,1ff) einleitet. Dann beginnt der Weg zunächst zur Sammlung Israels und dann zu den Völkern bis nach Rom in das Zentrum der Macht.