Gegen die ‚privatisierende‘ Enge (post-)moderner Theologie

In einem Interview mit Anselm Grün1 heißt es:

Anselm Grün: „Vielleicht kann uns die Corona-Krise demütig machen, so dass wir unsere Schattenseiten erkennen und beim Blick auf die Welt und die Probleme nicht verdrängen.“

Der Interviewer: „Die Krise als Chance… Ich habe manchmal das Gefühl, mit dieser Deutung kommen gerade Kirchenvertreter sehr schnell daher.“

Dieses „Gefühl“ stellt sich in der Tat beim Lesen so mancher Kommentare aus Kirche und Theologie ein. Angesichts von fehlendem Klopapier und knapp werdenden Nudeln entdecken manche die Theodizeefrage. Wenn sich das noch mit der Quarantäne verbindet, ist schnell die Rede davon, dass wir auf ‚uns selbst‘ zurückgeworfen seien.

In esoterisch-religiöser Variante kommt „die Welt“ nur insoweit vor, als dass „wir unsere Schattenseiten erkennen“ und dabei „die Welt und die Probleme nicht verdrängen“. In existentialistischer Lesart wird an Camus und zuweilen auch an Sartre erinnert – selbstverständlich bereinigt um die Frage, ob Camus‘ Pest eine Auseinandersetzung mit dem französischen Kolonialismus und politischem Totalitarismus sein könnte sowie um die Verbindung von Existenzialismus und Marxismus bei Sartre. Mit so bereinigtem Existenzialismus lässt sich – mit Kierkegaards Hilfe – der „Sprung in den Glauben“ wagen. Und der Glaube hat dann alltäglich hilfreiche Erfahrungen zu bieten. Sie beziehen sich auf Privates, vermeintlich ‚Eigentliches‘, Beziehung und Liebe als Erfahrung von Sinn… Und das soll durch die Katastrophe tragen, die vor allem die anderen trifft, deren ‚existenzielle Erfahrung‘ es ist, von allen verlassen und ohne rettendes Wasser und ohne ausreichend Raum, damit Distanz gehalten werden kann, zu sterben, weil die kapitalistische Welt nun einmal so ist.

In der Sammlung theologischer Sinnstifter dürfen natürlich auch die nicht fehlen, die den wissenschaftlichen Fortschritt preisen, ohne den „die allermeisten Menschen … im 21. Jahrhundert nicht so alt werden können“2 – fern von einem Gedanken daran, für welche Menschen und in welchen Ländern das gilt, und fern von jedem Gedanken, daran, dass der Fortschritt, der es einigen von ‚uns‘ ermöglicht, „so alt werden zu können“, zugleich ‚über die Leichen der anderen‘ geht.

Und Gott? Da leben wir in einer säkularen Welt „ohne Gott und das Ganze vor Gott“ – wie es, angelehnt an den wiederum um seine Widerständigkeit bereinigten Bonhoeffer, heißt. „Und dieses ‚vor Gott‘ meint …, mit einer gewissen Gelassenheit die Dinge kommen zu lassen, wie sie kommen, entschieden daran zu arbeiten, dass sie sich bessern, aber am Ende dann doch ein Gottvertrauen zu praktizieren.“ Leider verrät uns Striets Gelassenheit nichts darüber, wie denn in den Grenzen, die von den ‚verkehrten Verhältnissen‘, in denen wir leben, markiert sind, die Arbeit an der Besserung gehen soll… Gott ist dabei nützlich als ‚höheres Wesen‘, weil sich mit ihm Techniken der Kontingenzbewältigung verbinden lassen. Denn „der Mensch“ ist „endlich“ und „begrenzt in seinen Möglichkeiten. Und wenn er es denn kann, ist es auch sinnvoll, sich in einer größeren Macht festzumachen, die die Menschen Gott nennen.“ Das „hilft …, weil sozusagen dieses Sich-fest-Machen auch noch einmal darauf aufmerksam macht, dass die eigenen Möglichkeiten immer begrenzt sind.“ Na, dann gute Gelassenheit in den Grenzen, die der Kapitalismus setzt. In diesen Grenzen heißt Fortschritt: Voranschreiten in sich verschärfende Katastrophen. Und das war schon vor Corona der Fall.

Gegen solche Engführung sei an die Weite der ‚politischen Theologie‘ von Johann Baptist Metz erinnert. Sie ist formuliert gegen die ‚privatisierende‘ Enge, die (post-)moderne Theologie kennzeichnet. Sie gewinnt ihre Weite dadurch, dass sie ihr Augenmerk auf die ungerecht Leidenden und darin auf alle richtet. Im Mittelpunkt stehen nicht sinnstiftende Deutungen, sondern Rettung, nicht Gelassenheit, sondern Mit-Leidenschaft (Compassion) für die Leidenden und Leidenschaft, für Israels Gott und seine Verheißungen, nicht Antworten, sondern Fragen, nicht Anpassung, sondern dezidierter Widerspruch:

„Im Bewußtwerden der Situation ‚nach Auschwitz‘ drängte sich mir die Gottesfrage in ihrer merkwürdigsten, in ihrer ältesten und umstrittensten Version auf, eben in der Gestalt der Theodizeefrage, und das nicht in existentialistischer, sondern gewissermaßen in politischer Fassung: Gottesrede als Schrei nach der Rettung der Anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte. Wie auch könnte man, so wurde mir deutlich, ‚nach Auschwitz‘ ohne diese Frage nach der eigenen Rettung fragen! Die Gottesrede ist entweder die Rede von der Vision und der Verheißung einer großen Gerechtigkeit, die auch an diese vergangenen Leiden rührt, oder sie ist leer und verheißungslos – auch für die gegenwärtig Leidenden. Die dieser Gottesrede immanente Frage ist die Frage nach der Rettung der ungerecht Leidenden. Die sie leitende Wahrheit weiß sich allein im dezidierten Widerspruch gegen jede Form leidschaffender Ungerechtigkeit.“3

Im Psalm 42 schreit der Beter, der sich von Gott verlassen fühlt, nach Rettung. Wenn wir dieses Gebet nachsprechen, können wir Menschen unsere Gedanken zuwenden und ihnen unsere Stimme leihen. Beten ist ja nicht nur persönliches Beten, sondern auch stellvertretendes Eintreten vor Gott und den Menschen für die Rettung derer, die bedroht und verlassen sind.

Psalm 42

1 Für den Chormeister. Ein Weisheitslied der Korachiter. 2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, nach dir, Gott. 3 Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht? 4 Meine Tränen sind mir Brot geworden bei Tag und bei Nacht; man sagt zu mir den ganzen Tag: Wo ist dein Gott? 5 Ich denke daran und schütte vor mir meine Seele aus: Ich will in einer Schar einherziehn. Ich will in ihr zum Haus Gottes schreiten, im Schall von Jubel und Dank in festlich wogender Menge. 6 Was bist du bedrückt, meine Seele, und was ächzt du in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken für die Rettung in seinem Angesicht. 7 Bedrückt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich deiner im Jordanland, am Hermon, am Berg Mizar. 8 Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner stürzenden Wasser, all deine Wellen und Wogen zogen über mich hin. 9 Bei Tag entbietet der HERR seine Huld und in der Nacht ist sein Lied bei mir, ein Gebet zum Gott meines Lebens. 10 Sagen will ich zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd einhergehn, von meinem Feind unterdrückt? 11 Es trifft mich zu Tode in meinen Gebeinen, dass meine Bedränger mich verhöhnen, da sie den ganzen Tag zu mir sagen: Wo ist dein Gott? 12 Was bist du bedrückt, meine Seele, und was ächzt du in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, der Rettung meines Angesichts und meinem Gott.

Herbert Böttcher

1Eine Störung die heilsam sein kann, in: Magazin. Nr. 86. Beilage zum Kölner Stadt-Anzeiger vom 11./12.4. Es handelt sich um ein Interview, das Joachim Frank mit Anselm Grün führte.

2Magnus Striet, in: Besonnen durch die Krise, einem vom Deutschlandfunk veröffentlichten Interview.

3Johann Baptist Metz, Theologie als Theodizee?, in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, 103 – 118, 104.