Impuls 1
In der Corona-Krise drohen die Flüchtenden an der Grenze zu Griechenland und in den Lagern Griechenlands in Vergessenheit zu geraten. Bis zu ihnen reicht die gegenwärtig noch gerühmte Solidarität nicht. Gegenüber den Flüchtenden zeigt sich die EU unnachgiebig und sichert Griechenland bei der Sicherung der Grenze zur Türkei volle Unterstützung zu. „Mit dieser Zusage im Rücken hat Griechenland gegenüber den Flüchtlingen eine bis dahin nicht gekannte Härte an den Tag gelegt: Unter Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Blendgranaten wurden sie am Überschreiten der Grenze gehindert. Wer es über den Grenzfluss Evros dennoch nach Griechenland schaffte, wurde gewaltsam zur Rückkehr auf türkischen Boden gezwungen. Mit diesen kollektiven Zwangsabschiebungen hat Griechenland massiv gegen europäisches Recht verstoßen. Danach haben Flüchtlinge in der EU Anspruch auf ein Asylverfahren. … Neben all dem Elend sind sie nun auch noch schutzlos dem Coronavirus ausgeliefert. Das gilt auch und erst recht für die 20.000 Menschen, die im völlig überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos eingepferscht sind.“1
Impuls 2
In seinem Text „Gott um Gott bitten“2 verweist Metz auf eine Stelle aus dem Römerbrief (8,26):
„So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“
Dieser Satz des Paulus kann tröstlich sein in Situationen, in denen es den BeterInnen die Sprache verschlägt und selbst die biblisch überlieferten Gebete wie die Psalmen keine Hilfe mehr sind und im Dunkel der Gottesvergessenheit oder des Vermissens Gottes angesichts der Abgründigkeiten menschlichen Leidens zu versagen drohen. Er steht im Zusammenhang damit, dass Paulus die Leiden unter der Gewalt des römischen Imperiums in Zusammenhang mit dem Leiden der ganzen Schöpfung bringt, damit „dass die gesamte Schöpfung bis zum letzten Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“ (Röm 8,22). Mit den „Geburtswehen“ erinnert Paulus an die Hoffnung, dass das Leiden, nicht das ‚letzte Wort‘ ist. Aber von solcher Hoffnung ist nichts zu sehen. Was bleibt, ist die Unsicherheit, „zu hoffen auf das, was wir nicht sehen“ (8,25). Und dann fährt Paulus fort: „dann harren wir aus in Geduld“. Die Übersetzung des griechischen Textes mit Ausharren in „Geduld“ ist beschwichtigend und verharmlosend. Der mit Geduld übersetzte griechische Begriff wäre eher so zu verstehen: Wir harren aus mit widerständiger Hoffnung. Sie gibt uns die Kraft, uns nicht abzufinden und uns dem Imperium zu unterwerfen. Und wenn es uns die Sprache endgültig verschlägt, dann bleibt das „unaussprechliche Seufzen“ als Schrei nach Gott in der Kraft des Geistes, in der Gott uns und allen Gott sein will.
Lesung:
Der lange Text der Lesung ist manchen vielleicht noch als Erzählung von der ‚keuschen Susanna‘ in Erinnerung. Sie ist ein späterer Zusatz zum Buch Daniel. Sie kann gelesen werden als Geschichte des Unrechts und der Rechtsbeugung, die vergewaltigten oder von Vergewaltigung bedrohten Frauen durch männlich patriarchale Gewalt widerfährt. Zugleich stärkt sie die Hoffnung, dass Gott doch Recht spricht und die Gewalttäter in ihre Schranken weist. Die biblischen Traditionen, die von Israels Ehebruch und Unreinheit sprechen, wenn Israel sich Götzen der Macht beugt, legen nahe, diese Geschichte auch als Geschichte des Widerstands gegen die Versuchung zu lesen, doch wieder mit Ägypten zu ‚kopulieren‘ und in illusionärem Größenwahn Befreiung durch Unterwerfung zu ersetzen.
Text: 13,1-9.15-17.19-30.33-62
1 In Babylon wohnte ein Mann mit Namen Jojakim. 2 Er hatte Susanna, die Tochter Hilkijas, zur Frau; sie war sehr schön und gottesfürchtig. 3 Und ihre Eltern waren gerecht und hatten ihre Tochter nach dem Gesetz des Mose unterwiesen. 4 Jojakim war sehr reich; er besaß einen Garten nahe bei seinem Haus. Die Juden pflegten bei ihm zusammenzukommen, weil er der Angesehenste von allen war. 5 Als Richter amtierten in jenem Jahr zwei Älteste aus dem Volk, von denen galt, was der Herr gesagt hat: Ungerechtigkeit ging von Babylon aus, von den Ältesten, von den Richtern, die als Leiter des Volkes galten. 6 Sie hielten sich regelmäßig im Haus Jojakims auf und alle, die eine Rechtssache hatten, kamen zu ihnen. 7 Hatten sich nun die Leute um die Mittagszeit wieder entfernt, dann kam Susanna und ging im Garten ihres Mannes spazieren. 8 Die beiden Ältesten sahen sie täglich kommen und umhergehen; da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. 9 Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und sie wandten ihre Augen davon ab, zum Himmel zu schauen und an die gerechten Strafen zu denken. 15 Während sie auf einen günstigen Tag warteten, kam Susanna eines Tages wie gewöhnlich in den Garten, nur von zwei Mädchen begleitet, und wollte baden; denn es war heiß. 16 Niemand war dort außer den beiden Ältesten, die sich versteckt hatten und ihr auflauerten. 17 Sie sagte zu den Mädchen: Holt mir Öl und Salben und verriegelt das Gartentor, damit ich baden kann! 19 Als die Mädchen weg waren, standen die beiden Ältesten auf, liefen zu Susanna hin 20 und sagten: Das Gartentor ist verschlossen und niemand sieht uns; wir sind voll Begierde nach dir: Sei uns zu Willen und gib dich uns hin! 21 Weigerst du dich, dann bezeugen wir gegen dich, dass ein junger Mann bei dir war und dass du deshalb die Mädchen weggeschickt hast. 22 Da seufzte Susanna und sagte: Ich bin bedrängt von allen Seiten: Wenn ich es tue, so droht mir der Tod; tue ich es aber nicht, so werde ich euch nicht entrinnen. 23 Es ist besser für mich, es nicht zu tun und euch in die Hände zu fallen, als gegen den HERRN zu sündigen. 24 Da schrie Susanna mit lauter Stimme auf. Aber zugleich mit ihr schrien auch die beiden Ältesten 25 und einer von ihnen lief zum Gartentor und öffnete es. 26 Als die Leute im Haus das Geschrei im Garten hörten, eilten sie durch die Seitentür herbei, um zu sehen, was ihr zugestoßen sei. 27 Als die Ältesten ihre Erklärung gaben, schämten sich die Diener sehr; denn noch nie war so etwas über Susanna gesagt worden. 28 Als am nächsten Morgen das Volk bei Jojakim, ihrem Mann, zusammenkam, erschienen auch die beiden Ältesten. Sie kamen mit der verbrecherischen Absicht, gegen Susanna die Todesstrafe zu erwirken. Sie sagten vor dem Volk: 29 Schickt nach Susanna, der Tochter Hilkijas, der Frau Jojakims! Man schickte nach ihr. 30 Und sie kam, begleitet von ihren Eltern, ihren Kindern und allen Verwandten. 33 Ihre Angehörigen aber und alle, die sie erblickten, weinten. 34 Die beiden Ältesten aber standen auf inmitten des Volkes und legten ihre Hände auf den Kopf Susannas. 35 Sie aber blickte weinend zum Himmel auf; denn ihr Herz vertraute dem HERRN. 36 Die Ältesten sagten: Während wir allein im Garten spazieren gingen, kam diese Frau mit zwei Mägden herein. Sie ließ das Gartentor verriegeln und schickte die Mägde fort. 37 Dann kam ein junger Mann zu ihr, der sich versteckt hatte, und legte sich zu ihr. 38 Wir waren gerade in einer abgelegenen Ecke des Gartens; als wir aber die Sünde sahen, eilten wir zu ihnen hin 39 und sahen, wie sie zusammen waren. Den Mann konnten wir nicht festhalten; denn er war stärker als wir; er öffnete das Tor und entkam. 40 Aber diese da hielten wir fest und fragten sie, wer der junge Mann war. 41 Sie wollte es uns aber nicht verraten. Das alles können wir bezeugen. Die versammelte Gemeinde glaubte ihnen, weil sie Älteste des Volkes und Richter waren, und verurteilte Susanna zum Tod. 42 Susanna aber schrie auf mit lauter Stimme und sagte: Ewiger Gott, du kennst auch das Verborgene; du weißt alles, noch bevor es geschieht. 43 Du weißt auch, dass sie eine falsche Aussage gegen mich gemacht haben. Darum muss ich jetzt sterben, obwohl ich nichts von dem getan habe, was diese Menschen mir vorwerfen. 44 Der HERR erhörte ihr Rufen. 45 Als man sie zur Hinrichtung führte, erweckte Gott den heiligen Geist in einem jungen Mann namens Daniel. 46 Dieser schrie mit lauter Stimme: Ich bin unschuldig am Blut dieser Frau. 47 Da wandten sich alle Leute nach ihm um und fragten ihn: Was soll das heißen, was du da gesagt hast? 48 Er trat mitten unter sie und sagte: Seid ihr so töricht, ihr Söhne Israels? Ohne Verhör und ohne Prüfung der Beweise habt ihr eine Tochter Israels verurteilt. 49 Kehrt zurück zum Ort des Gerichts! Denn diese Ältesten haben eine falsche Aussage gegen Susanna gemacht. 50 Eilig kehrten alle Leute wieder um und die Ältesten sagten zu Daniel: Setz dich hier mitten unter uns und sag uns, was du zu sagen hast! Denn dir hat Gott den Vorsitz verliehen. 51 Daniel sagte zu ihnen: Trennt diese beiden Männer, bringt sie weit auseinander! Ich will sie verhören. 52 Als man sie voneinander getrennt hatte, rief er den einen von ihnen her und sagte zu ihm: In Schlechtigkeit bist du alt geworden; doch jetzt kommt die Strafe für die Sünden, die du bisher begangen hast. 53 Ungerechte Urteile hast du gefällt, Schuldlose verurteilt, aber Schuldige freigesprochen; und doch hat der HERR gesagt: Einen Schuldlosen und Gerechten sollst du nicht töten. 54 Wenn du also diese Frau wirklich gesehen hast, sage: Unter welchem Baum hast du sie miteinander verkehren sehen? Er aber sagte: Unter einem Mastixbaum. 55 Da sagte Daniel: Mit deiner Lüge hast du dein eigenes Haupt getroffen. Der Engel Gottes wird dich zerspalten; schon hat er von Gott den Befehl dazu erhalten. 56 Dann ließ er ihn wegbringen und befahl, den andern vorzuführen. Zu ihm sagte er: Du Sohn Kanaans, nicht Judas, dich hat die Schönheit verführt, die Leidenschaft hat dein Herz verdorben. 57 So tatet ihr an den Töchtern Israels und jene verkehrten mit euch, weil sie sich fürchteten; aber eine Tochter Judas duldete eure Gesetzlosigkeit nicht. 58 Nun sag mir: Unter welchem Baum hast du sie ertappt, während sie miteinander verkehrten? Er sagte: Unter einer Eiche. 59 Da sagte Daniel zu ihm: Mit deiner Lüge hast auch du dein eigenes Haupt getroffen. Der Engel Gottes wartet schon mit dem Schwert in der Hand, um dich mitten entzweizuhauen. So wird er euch beide vernichten. 60 Da schrie die ganze Gemeinde laut auf und pries Gott, der alle rettet, die auf ihn hoffen. 61 Dann erhoben sie sich gegen die beiden Ältesten, die Daniel durch ihre eigenen Worte als falsche Zeugen entlarvt hatte. Das Böse, das sie ihrem Nächsten hatten antun wollen, tat man 62 nach dem Gesetz des Mose ihnen an: Man tötete sie. So wurde an jenem Tag unschuldiges Blut gerettet.
Zwischengesang: Ps 23
1 Ein Psalm Davids. Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. 2 Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. 3 Meine Lebenskraft bringt er zurück. Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen. 4 Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich. 5 Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, übervoll ist mein Becher. 6 Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN für lange Zeiten.
Evangelium: Joh 7,53 – 8,11
53 Dann gingen alle nach Hause. 1 Jesus aber ging zum Ölberg. 2 Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte 4 und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. 5 Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. 10 Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? 11 Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Das Evangelium von der ‚Ehebrecherin‘ ist im Lesejahr C als Evangelium für den 5. Sonntag der österlichen Bußzeit vorgesehen. Der folgende Text ist eine Predigt zu diesem Sonntag. Aus inhaltlichen Gründen musste der Vers 7,53 einbezogen werden, das Evangelium also damit beginnen.
Die Sonntage der Österlichen Bußzeit stellen uns die Frage nach Sünde und Umkehr. Die Umkehr will uns neu ausrichten auf Gottes neue Welt, die wir an Ostern feiern. Die Evangelien der Fastenzeit haben immer wieder deutlich gemacht: Alle müssen umkehren; denn niemand kann der Macht der Sünde entgehen. Niemand kann für sich selbst gerecht sein, wenn er in Verhältnissen lebt, die von Strukturen des Unrechts und der Gewalt geprägt sind. Weil niemand außerhalb der Sünde steht, kann auch niemand es wagen, den ersten Stein auf Schuldige zu werfen (8,7).
Das heutige Evangelium erzählt, wie Jesus eine Ehebrecherin vor der Gnadenlosigkeit des Gesetzes schützt. Wenn wir diese Geschichte getrennt von ihren Zusammenhängen hören, bekommt sie eine antijudaistische Schlagseite nach dem Schema: Das jüdische Gesetz unterdrückt, das Evangelium befreit. Der Gott der Juden bestraft, der liebende Gott Jesu vergibt.
Die Tora sieht zwar für Ehebruch die Steinigung vor. Aber aus der Zeit Jesu und danach ist kein Fall einer Steinigung belegt. Das ist kein Zufall; denn in Verfahren, bei denen die Todesstrafe droht, sind bei der Auslegung der Tora so viele Barrieren eingebaut, dass es kaum möglich ist, sie zu vollstrecken3. Zudem soll in unserem Evangelium nur die Frau bestraft werden. Dies steht im Widerspruch sowohl zum jüdischen als auch zum römischen Recht. Bei beiden geht es vor allem um den Mann. Er bricht aus der eigenen Ehe aus und in die Ehe eines anderen Mannes ein. Aus jüdischer Sicht gefährdet er das Zusammenleben des Volkes, dessen Basis das den Familien zugeteilte Land ist. Aus römischer Sicht verstößt er gegen die ‚Eigentumsordnung‘ und stellt mit der Familie die Grundlagen der römischen Herrschaft in Frage.
In unserer Geschichte aber ist von einem Mann keine Rede. Sie wird erst verständlich, wenn wir sie im Zusammenhang des ganzen Evangeliums des Johannes sehen. Darin geht es um das Verhältnis Israels zur römischen Gewaltherrschaft. Während Jesus sich in Treue zu Israels Gott für Befreiung aus Unrecht und Gewalt einsetzt, passen sich die führenden Schichten der Herrschaft Roms an. Dabei wollen sie sich von solchen wie Jesus nicht beirren lassen (7,46). Sie machen die Tora zu einem Instrument der Unterdrückung. Im Namen des Gesetzes sollen diejenigen, die Rom die Loyalität verweigern, getötet werden. Die Tora, deren Perspektive die Befreiung ist, verschmilzt mit dem römischen Gesetz, das die Macht Roms sichert.
Von Ehebruch sprechen Israels Propheten, wenn Israel sich fremder Herrschaft anpasst. Ehebruch ist dann ein Bild für den Bruch der Treue des Volkes gegenüber seinem Gott. Israel geht fremd, wenn es sich fremder Herrschaft unterwirft und den Wegen der Befreiung untreu wird. Das Vertrauen auf den Gott der Befreiung wird ersetzt durch das Vertrauen auf Götzen, die Unterdrückung und Gewalt rechtfertigen. Die Folge ist: Das Volk löst sich auf.
Auch Johannes erzählt von solchen Auflösungserscheinungen. Sie entstehen, weil die führenden Schichten mit Rom paktieren und dabei die Tora außer Kraft setzen. Dies zeigt sich bei ihrem ersten Versuch, Jesus festzunehmen. Dem tritt Nikodemus mit der Frage entgegen: „Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut?“ (Joh 7,50) Dennoch beharren die Hohenpriester auf ihrer Absicht, Jesus umzubringen. Hier wird deutlich: Die Tora gilt in Israel nicht mehr. Und so löst sich Israel auf. „Dann gingen alle nach Hause“ (V. 58), erzählt Johannes. Dabei greift er eine Formulierung aus dem Ersten Testament auf. Nach vernichtenden Niederlagen des Volkes – so heißt es da – fliehen „alle in ihre Zelte“ (1 Sam 4,10, ähnlich 2 Sam 18,17, 2 Kön 14,12). Das von Gott befreite Volk löst sich in Vereinzelung auf.
Heute hören wir die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin, vom Bruch der Treue gegenüber dem Gott der Befreiung, vor dem Hintergrund dessen, was in El Salvador und an immer mehr Orten geschieht. Staaten zerfallen, ganze Länder und soziale Zusammenhänge lösen sich auf, weil die Grundlagen des Lebens zerstört werden. Menschen fallen ins Chaos. Darin herrscht nackte Gewalt: die Gewalt des Kampfes von Banden, die um die noch nutzbaren Reste des Zerfalls kämpfen, die Gewalt, die von Menschen inszeniert wird, um in aller Ohnmacht noch an die eigene Macht und Größe glauben zu können, die Gewalt, denen vor allem Frauen und Kinder im Kampf um das Überleben ausgesetzt sind. Der Zerfall greift auch in Europa um sich. Die Staatengemeinschaft droht an nationalen Interessen zu zerbrechen. Infrastrukturen zerfallen ebenso wie soziale Zusammenhänge. Flüchtlingsunterkünfte brennen. Jüdische Menschen trauen sich nicht mehr auf die Straße, wenn sie als Juden zu erkennen sind. Um national und völkisch orientierten Strömungen zu gefallen und aus Angst vor dem eigenen Zerfall, lässt die EU Flüchtende im Mittelmeer ertrinken.
Auch heute verbinden sich die globalen Auflösungserscheinungen mit Götzendienst. Trotz aller Krisen und Katastrophen scheint der Glaube an den Götzen Kapital ungebrochen. Die Unterwerfung unter das tödliche Gesetze der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen hat den Status der Alternativlosigkeit. Das fordert bedingungslose Unterwerfung. Genau darin zeigt sich die Herrschaft der Sünde. Ihr kann sich niemand entziehen. Keine Nische kann vor ihr Sicherheit gewähren. Angesichts dessen erscheint das diesjährige Motto von Misereor (2019) ‚Mach, was draus: Sei Zukunft!‘ als zu simpel. Das globale System des Götzendienstes und der Herrschaft der Sünde lässt sich nicht einfach in Zukunft umbiegen – schon gar nicht durch einzelne. Es agiert ja so brutal, weil es keine Zukunft mehr hat außer der voranschreitender Zerstörung.
Woher aber kann Zukunft kommen? Sehen wir noch einmal in unsere Geschichte. Während „alle nach Hause“ (7,53) gehen, geht Jesus „zum Ölberg“ (8,1). Von dort, „vom Osten“ (Ez 43,1) Jerusalems her, zieht nach dem Propheten Ezechiel die Herrlichkeit Gottes nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier wieder neu in den Tempel ein. Auf diesem Weg geht auch Jesus „wieder in den Tempel“. Und: „Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es“ (8,2). Der Messias sammelt das sich auflösende Volk neu. Er lehrt die Tora, d.h. die Trennung von Ägypten und die Wege der Befreiung. Sie sind nur möglich, wenn es zum Bruch mit Ägypten, in der Gegenwart des Johannes zum Bruch mit Rom kommt.
Der Messias will das sich auflösende Volk retten, nicht verurteilen. Deshalb schützt er die Ehebrecherin, die für Israel steht, vor der Verurteilung. Er springt in die Bresche wie Mose, als sich das Volk das Goldene Kalb gebaut hatte. Gegen den Zorn Gottes tritt er dafür ein, dass Gott nach der Zerstörung des Götzen den Weg mit seinem Volk weitergeht. So handelt auch der Messias. Er urteilt nicht vom hohen Richterstuhl herab, sondern bückt sich und schreibt in den Sand. Mose hatte die Gebote empfangen, die Gott mit dem Finger seiner Hand in die steinernen Tafeln geschrieben hatte. Jesus nun schreibt die Sünde des Götzendienstes in den Sand. Sie wird nicht geleugnet. Aber sie ist auch nicht in Stein gemeißelt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Jesu Wort an die Ehebrecherin verstehen: „Ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr“ (8,11). Zukunft kann es nicht unter der Herrschaft der Sünde geben, sondern nur, wenn mit ihr gebrochen wird. Mit dieser Einsicht jedoch ist die Herrschaft der Sünde noch nicht vom Tisch – die Herrschaft Roms ebenso wenig wie die Herrschaft des Kapitalismus.
Im Kern geht es um Vertrauen. Die Herrschaft der Sünde ist so mächtig, weil Menschen ihr vertrauen, sie sich zu eigen machen oder sich mit ihr abfinden. Wer umkehren will, steht vor Frage: Wem gilt unser Vertrauen und unsere Loyalität – der Herrschaft der Sünde und ihren Götzen des Todes oder dem Gott der Befreiung und des Lebens? Welche Macht in unseren Köpfen und Herzen bestimmt unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Handeln, unseren Umgang mit anderen Menschen?
„Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (8,11), sagt Jesus zu seinem Volk, das mit Rom fremd geht. Der Weg, nicht zu sündigen, ist für Johannes der Weg des Vertrauens auf den Messias. Sein Weg führt zur Überwindung der Herrschaft der Sünde. Jesus hat sich bis in den Tod ihrer Herrschaft widersetzt und wurde in ihrem Namen hingerichtet. Gott aber hat ihn auferweckt und bezeugt, dass Jesu Weg zur Überwindung der Herrschaft der Sünde führt. Ob wir uns unter die Herrschaft der Sünde beugen oder ihr widerstehen, entscheidet sich daran, ob wir dem Weg Jesu vertrauen.
Wenn wir Jesu Weg vertrauen, setzen wir nicht auf eine Herrschaft, die den Tod exekutiert, sondern den Weg des Lebens oder – wie Paulus im Text der Lesung sagt – auf „die Macht seiner Auferstehung“ (Phil 3,10). Darin hat Israels Gott gezeigt, dass er die Grenzen geschlossener Systeme der Herrschaft überschreiten und überwinden will. In der Macht von Jesu Auferstehung wird es möglich, den Bruch mit der Herrschaft der Sünde und des Todes zu riskieren und im Widerstand zu ihr Wege der Befreiung zu suchen. Dieser Weg führt – so Paulus – „über die Gemeinschaft mit seinen Leiden“, d.h. über die Solidarität mit denen, die wie der Messias an der Herrschaft der Sünde zugrunde gehen. Auf diesem Weg aber werden wir nach der Überzeugung des Paulus „zur Auferstehung der Toten“ gelangen, zur Welt Gottes, in der die gerettet sind, die Opfer von Unrecht und Gewalt geworden sind. Und wir alle, die wir Sünder und Sünderinnen sind, werden in Gottes Gericht aufgerichtet und neu ausgerichtet auf ein Leben der Befreiung in einem neuen Himmel und in einer neuen Erde.
Die Osternacht wird die Frage nach Umkehr und Neuausrichtung stellen. Bei der Erneuerung des Taufversprechens werden wir gefragt, ob wir den Bruch riskieren, ob wir der Herrschaft der Sünde, wie sie sich in unserer Zeit zeigt, widersagen und auf Israels Gott, seinen Messias und den Geist, der gegen allen Tod Leben schafft, vertrauen. Je mehr wir uns in der Österlichen Bußzeit mit der Herrschaft der Sünde und unseren Verstrickungen in sie kritisch auseinandersetzen, umso intensiver werden wir Ostern feiern können, das große Fest der Befreiung aus Unrecht und Gewalt, aus Leid und Tod.
1Michael Bertrams, Die Pandemie und die Schutzlosen, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 20.3.20120.
2Johann Baptist Metz, Sis eis Deus: Gott um Gott bitten, 2007, in ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Freiburg im Breisgau 2017, 43-52, 45ff.
3Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart 2019, 254f.