Impuls: „Gott um Gott bitten“ (J.B. Metz)?
Der Zusammenhang zwischen ‚Gott‘ und Gesellschaftskritik liegt theologisch wesentlich in der Unterscheidung zwischen Gott und Götzen begründet. Dabei geht es gesellschaftskritisch um die Unterscheidung von Befreiung und Unterdrückung, von Leben und Tod. In dieser Unterscheidung ist Israels Insistieren auf dem einen Gott begründet, wie es Dtn 6,4 zum Ausdruck kommt:
„Höre, Israel. Der HERR, unser Gott ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“
Deshalb lebt „der Mensch nicht nur von Brot…, sondern von allem … , was der Mund des HERRN spricht“ (Dtn 8,3). Damit ist das Brot nicht abgewertet oder vergeistigt, sondern in den Horizont der Befreiung gestellt, zu der das Wort der Tora den Weg weist. Die Bibel erzählt, wie Israel auf diesem Weg immer wieder der Versuchung erlegen ist, sich Götzen, d.h. Systemen der Macht zu unterwerfen. Biblisch gesprochen: Mit der Unterwerfung unter Götzen führt der Weg zurück nach Ägypten. Dagegen hat sich eine biblische Religionskritik entwickelt. Ihr Gegenstand war die religiöse Legitimation von Herrschaft. Heutige kapitalistische Herrschaft legitimiert sich kaum noch religiös. Dennoch ist der Kapitalismus mit einer religiösen Aura umgeben, die ihn als ‚alternativlos‘ erscheinen lässt. Er ist mit einem immanenten Fetischismus – dem abstrakten Selbstzweck der Vermehrung von Kapital – verbunden. Dieser Fetisch fordert seine Opfer – in der Corona-Krise vor allem das Leben derjenigen, die Opfer der kaputt gesparten Gesundheitssysteme werden bis hin zu denen, die dem Virus wie damals Ebola in Ländern des Zusammenbruchs ausgeliefert sind.
„Gott um Gott zu bitten“, d.h. nicht zuletzt darum zu bitten, dass er sich endlich als derjenige zeigen möge, der er mit seinem Namen versprochen hat zu sein: der Herr und Richter über die Götzen des Todes.
Erste Lesung: Ex 32,1-14
1 Als das Volk sah, dass Mose noch immer nicht vom Berg herabkam, versammelte es sich um Aaron und sagte zu ihm: Komm, mach uns Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. 2 Aaron antwortete: Nehmt euren Frauen, Söhnen und Töchtern die goldenen Ringe ab, die sie an den Ohren tragen, und bringt sie her! 3 Da nahm das ganze Volk die goldenen Ohrringe ab und brachte sie zu Aaron. 4 Er nahm sie aus ihrer Hand. Und er bearbeitete sie mit einem Werkzeug und machte daraus ein gegossenes Kalb. Da sagten sie: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. 5 Als Aaron das sah, baute er vor ihm einen Altar und rief aus: Morgen ist ein Fest für den HERRN. 6 Früh am Morgen standen sie auf, brachten Brandopfer dar und führten Tiere für das Heilsopfer herbei. Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen. 7 Da sprach der HERR zu Mose: Geh, steig hinunter, denn dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, läuft ins Verderben. 8 Schnell sind sie von dem Weg abgewichen, den ich ihnen vorgeschrieben habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht, sich vor ihm niedergeworfen und ihm Opfer geschlachtet, wobei sie sagten: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. 9 Weiter sprach der HERR zu Mose: Ich habe dieses Volk gesehen und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk. 10 Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt! Dich aber will ich zu einem großen Volk machen. 11 Mose aber besänftigte den HERRN, seinen Gott, indem er sagte: Wozu, HERR, soll dein Zorn gegen dein Volk entbrennen, das du mit großer Macht und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast. 12 Wozu sollen die Ägypter sagen können: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom Erdboden verschwinden zu lassen? Lass ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Unheil reuen, das du deinem Volk antun wolltest! 13 Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du selbst geschworen und gesagt hast: Ich will eure Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben und sie sollen es für immer besitzen. 14 Da ließ sich der HERR das Unheil reuen, das er seinem Volk angedroht hatte.
Mose ist noch nicht vom Berg Sinai herabgekommen. Seine Abwesenheit lässt das Volk verzweifelt zurück. Weil es nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll, baut es sich „ein gegossenes Kalb“ (V. 8). Die Abwesenheit des von Gott zur Befreiung gesandten Mose soll durch etwas ‚Handfestes‘ dargestellt werden. Das Unmittelbare, das Greifbare kann nicht Gott sein. Dahinter verbirgt sich eine ‚falsche Unmittelbarkeit‘, letztlich die Legitimation von Herrschaft wie sie in der Konkretion von ‚Brot und Spielen‘, von ‚Abspeisen und Unterhaltung‘ zum Ausdruck kommt.
Mose tritt vor Gott für sein widerspenstiges und zugleich verzweifeltes Volk ein. Bittet er „Gott um Gott“? Jedenfalls bittet er darum, dass Gott seinem Volk wieder auf den Wegen der Befreiung begegne, wenn dieses Volk von seiner Sucht nach Unterwerfung und Sicherheit zu seinem Gott umkehrt.
Zwischengesang: Ps 106,19-23
19 Sie machten am Horeb ein Kalb und warfen sich nieder vor dem Gussbild. 20 Die Herrlichkeit Gottes tauschten sie ein gegen das Abbild eines Stieres, der Gras frisst. 21 Sie vergaßen Gott, ihren Retter, der einst in Ägypten Großes vollbrachte, 22 Wunder im Land Hams, Furcht erregende Taten am Roten Meer. 23 Da sann er darauf, sie zu vertilgen, wäre nicht Mose gewesen, sein Erwählter. Der trat vor ihn in die Bresche, seinen Grimm abzuwenden vom Vernichten.
Evangelium: Joh 5,17-471
17 Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke. 18 Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichmachte. 19 Jesus aber sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. 20 Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut, und noch größere Werke wird er ihm zeigen, sodass ihr staunen werdet. 21 Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will. 22 Auch richtet der Vater niemanden, sondern er hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen, 23 damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat. 24 Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen. 25 Amen, amen, ich sage euch: Die Stunde kommt und sie ist schon da, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und alle, die sie hören, werden leben. 26 Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben. 27 Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. 28 Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, werden zum Gericht auferstehen. 30 Von mir selbst aus kann ich nichts tun; ich richte, wie ich es vom Vater höre, und mein Gericht ist gerecht, weil ich nicht meinen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. 31 Wenn ich über mich selbst Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis nicht wahr; 32 ein anderer ist es, der über mich Zeugnis ablegt, und ich weiß: Das Zeugnis, das er über mich ablegt, ist wahr. 33 Ihr habt zu Johannes geschickt und er hat für die Wahrheit Zeugnis abgelegt. 34 Ich aber nehme von keinem Menschen ein Zeugnis an, sondern ich sage dies nur, damit ihr gerettet werdet. 35 Jener war die Lampe, die brennt und leuchtet, doch ihr wolltet euch nur eine Zeit lang an ihrem Licht erfreuen. 36 Ich aber habe ein gewichtigeres Zeugnis als das des Johannes: Die Werke, die mein Vater mir übertragen hat, damit ich sie zu Ende führe, diese Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafür ab, dass mich der Vater gesandt hat. 37 Auch der Vater selbst, der mich gesandt hat, hat über mich Zeugnis abgelegt. Ihr habt weder seine Stimme je gehört noch seine Gestalt gesehen 38 und auch sein Wort bleibt nicht in euch, weil ihr dem nicht glaubt, den er gesandt hat. 39 Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab. 40 Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu haben. 41 Ehre von Menschen nehme ich nicht an. 42 Ich habe euch jedoch erkannt, dass ihr die Liebe zu Gott nicht in euch habt. 43 Ich bin im Namen meines Vaters gekommen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn aber ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, dann werdet ihr ihn annehmen. 44 Wie könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eure Ehre voneinander annehmt, nicht aber die Ehre sucht, die von dem einen Gott kommt? 45 Denkt nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; Mose klagt euch an, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. 46 Wenn ihr Mose glauben würdet, müsstet ihr auch mir glauben; denn über mich hat er geschrieben. 47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen Worten glauben?
In dem heutigen Ausschnitt aus dem Evangelium nach Johannes rechtfertigt Jesus die Heilung des Gelähmten. Sie war auf Kritik gestoßen, weil sie am Sabbat erfolgte. Jesus rechtfertigt sich mit der Einheit seiner Person mit dem Vater. Diese Einheit ist hier noch nicht als Einheit von göttlicher und menschlicher Natur gedacht. Das ist griechisches Denken. Johannes denkt jüdisch und damit geschichtlich. Die Einheit zwischen Vater und Sohn zeigt sich im Tun, im Wirken, in den Werken, in dem, was ‚geschieht‘. Vor dem Hintergrund der Heilung des gelähmten Israel zeigt sich die Einheit des Wirkens von Vater und Sohn darin, dass der Sohn als Gesandter des Vaters gekommen ist, Israel aus der Lähmung unter der Herrschaft Roms wieder lebendig zu machen – in Analogie zur Sendung des Mose, der Israel aus Ägypten führen sollte.
Die Befreiung aus der Lähmung sieht Johannes im Horizont der Auferstehung der Toten, die als Wirken des Vaters ausgesagt wird: „Wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will“ (V. 21). Angespielt ist auf das Buch Daniel. Nach Dan 12,1-2 werden diejenigen, die Israels Gott gegen die Herrschaft der Griechen bis in den Tod die Treue gehalten haben, „zum ewigen Leben“ erwachen, während diejenigen, die sich den Götzen, d.h. dem griechischen Machtsystem unterworfen haben zu „ewigem Abscheu“ erwachen. In der Formulierung des Johannes „wen ich will“ (5, 21) geht es nicht um Willkür im Sinn von ‚nach meiner Laune‘, sondern um den Willen zur Gerechtigkeit gegenüber den Opfern von Herrschaft. Die Auferweckung der Toten ist nicht ‚Weiterleben‘ wie bisher, sondern Unterbrechung. Wenn Israel auf‘gerichtet‘ werden soll, dann geht das nur, wenn Rom ‚gerichtet‘ wird. Die Herrschaft der Götzen/Fetische ist im ‚ewigen Leben‘ zu Ende.
Bei Johannes ist ‚ewiges Leben‘ also gerade nicht die Verewigung der Zeit im Sinne von ‚Es geht weiter‘. Mit dem ‚ewigen Leben‘ ist vielmehr Gottes neue Welt gemeint. Sie kommt nicht erst ‚im Jenseits‘, sondern bricht jetzt schon in die Zeit hinein. Sie bricht ein in der Aufrichtung des ‚gelähmten Israel‘. Deshalb ist die Heilung des Gelähmten für Johannes ein Zeichen der Befreiung. Wer sich so zu Wegen der Befreiung auf‘richten‘ lässt, der hat schon „das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“ (5, 25). Er beugt sich nicht der Herrschaft Roms, erkennt ihre Grenzen nicht an, sondern negiert sie, indem er sie überschreitet, ‚transzendiert‘. So zeigt sich Gottes Transzendenz in einem doppelten, miteinander verbundenen Transzendieren, dem Überschreiten von geschlossenen Grenzen in der Geschichte sowie einer geschlossenen Immanenz der Geschichte, in der es keine Rettung für die vergangenen Opfer geben kann. In diesem Sinne verstehen wir Gottes Transzendenz als Einspruch gegen die geschlossene Immanenz des tödlichen Kapitalismus sowie als Einspruch dagegen, dass der Tod der Opfer und aller Toten endgültig sein soll. In Zeiten von Corona mag sich das immanente Transzendieren als bescheiden anfühlen. Vielleicht mag uns die Isolation als Lähmung erscheinen in einer Zeit, in der wir zusammen aufstehen müssten. Und dennoch ist es nicht wenig und aufrichtend, wenn es am Ende von Maria K.s mit der ersten Sendung verschicktem Impuls heißt:
„Es ist nicht alles abgesagt… Sonne ist nicht abgesagt, Frühling ist nicht abgesagt, Beziehungen sind nicht abgesagt, Liebe ist nicht abgesagt, Lesen ist nicht abgesagt, Zuwendung ist nicht abgesagt, Musik ist nicht abgesagt, Freundlichkeit ist nicht abgesagt, Gespräche sind nicht abgesagt, Hoffnung ist nicht abgesagt, Beten ist nicht abgesagt…“
1Da gestern das Fest der Verkündigung des Herrn gefeiert wurde, ist die Lektüre des Textes von Joh 5 unterbrochen. Im Interesse des Zusammenhangs ist es sinnvoll, den Text wie hier angegeben zu lesen.