Wenn im November die Natur abstirbt, rückt mit Allerseelen und dem Totensonntag auch das Sterben von Menschen in den Blick. Im Unterschied zum ‚Stirb und Werde‘ der Natur gibt es beim Tod von Menschen keine neue Blüte des Lebens im Frühling. Ihr Tod ist endgültig – jedenfalls, was eine Rückkehr in das Leben betrifft, das wir kennen.
Deshalb ist es guter Brauch, im Besuch der Gräber wenigstens die Erinnerung an die Toten zu pflegen, denen wir besonders verbunden sind. Wer realistisch ist, weiß jedoch, dass die Erinnerung schnell verblasst und spätestens in den nächsten Generationen ausgelöscht sein wird. Geschichtlich erinnert werden dann höchstens die vermeintlich ‚Großen‘ in der Geschichte. Alle anderen fallen dem Vergessen anheim, am schnellsten diejenigen, die einen vorzeitigen Tod sterben, weil ihre Lebenschancen bereits durch Hunger und Krankheit, durch Krieg und die Zerstörung der Lebensgrundlagen ein vorzeitiges Ende finden.
Mit dem Tag aller Seelen und dem Sonntag aller Toten sollten nicht zuletzt diejenigen in den Blick kommen, deren Leben durch manifeste oder strukturelle Gewalt ausgelöscht wurde. Weder die Erinnerung noch der Gedanke einer harmonischen Rückkehr in die Natur kann diese offenen Wunden übertünchen. Der Gesellschaftskritiker Theodor W. Adorno hat darauf bestanden, dass der Gedanke der Befreiung heranreichen müsse an die „Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern auch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“. Aufgabe der Kirchen wäre es, diese „Idee“ lebendig zu halten – in der Hoffnung auf die Auferweckung der Toten in einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“ (Offb 21,1) ebenso wie im Widerstand gegen Verhältnisse, die töten.
Herbert Böttcher (Pastoralreferent i.R.), zuerst veröffentlicht im „Super Sonntag“ am 17. November 2019