Neuer Sammelband zeigt: Die christliche Kapitalismuskritik lebt noch
Marxisten nehmen Publikationen religiöser Gruppierungen meist nicht zur Kenntnis. Zu Unrecht, gab es vor wenigen Jahrzehnten eine vergleichsweise starke „Theologie der Befreiung“, kämpften in verschiedenen Regionen Lateinamerikas Armenpriester Seite an Seite mit kommunistischen Guerilleros gegen rechte Militärs. Wer aber vermutet in unserer Gegenwart in einem von katholischen und evangelischen Einrichtungen herausgegebenen Jubiläumsband eindeutige Bekenntnisse zum wissenschaftlichen Werk von Karl Marx?
Dass die Herausgeber des Buches „Die Frage nach dem Ganzen“ sich eindeutig gegen Krieg, rassistischen Terror und soziale Grausamkeiten positionieren, macht sie sympathisch. Beiträge des Sammelbandes analysieren beispielsweise den Fetischcharakter der Ware und damit den religiösen Charakter kapitalistischen Wirtschaftens insgesamt. Andere Texte untersuchen die Möglichkeiten und Grenzen humanitären Eingreifens gegen die Grausamkeiten der spätkapitalistischen Gesellschaft. Hervorzuheben ist dabei, dass die AutorInnen keineswegs klassische katholischer Armenfürsorge propagieren, sondern eine durchaus zutreffende Analyse der entscheidenden Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft liefern.
Heribert Böttcher untersucht in seinem Beitrag “Hilft nur noch beten?“ den Aufstieg diverser fundamentalistischer Sekten in unserer Gegenwart, die er als „reflexions- und perspektivlose Krisenverwaltung“ und als „Treibsatz der Barbarisierung“ charakterisiert. Der Fundamentalismus erlaube es durch seinen Verzicht auf kritische Reflexion, als „Fremde“ betrachtete Angehörige anderer Gruppen und Kulturen „zu Ersatzobjekten zu machen, an denen sich unbegriffenes Unbehagen und diffuse Ängste ausagieren“ könne. Wobei Böttcher ausdrücklich darauf hinweist, dass der Aufstieg der religiösen Rechten ein globales Phänomen und keineswegs auf den islamisch dominierten Teil unserer Welt beschränkt ist.
Dominic Kloos, kritisiert in seinem Beitrag „Alternativen zum Kapitalismus“ derzeit wieder moderne neokeynesianische Reformkonzepte und weist unter Bezug auf Marx nach, dass der bürgerliche Nationalstaat sozioökonomisch nur eine abgeleiteten Größe ist, die aktuellen Krisenerscheinungen der bürgerlichen Demokratie mitsamt ihrer Erscheinungsformen wie Demokratieabbau und Ausbau von Repressionsapparaten demzufolge auf einer Krise der kapitalistischen Ökonomie insgesamt basieren.
Ähnlich argumentiert Böttcher in seinem Beitrag „Wir müssen doch was tun!“. Die auch von der politischen Linken immer wieder erhobene Forderung, die jeweilige Regierung müsse etwas gegen soziale Verwerfungen unternehmen, laufe angesichts einer Handlungsunfähigkeit des Staatsapparates auf die Suche nach Sündenböcken hinaus. In diesem Umfeld würden rechtsradikale Gruppierungen blühen und wachsen, die für „komplexe Problemlagen in falscher Unmittelbarkeit Schuldige (…) konkretisieren“ und für eine real vorhandene gesamtgesellschaftliche Misere entweder „Flüchtlinge“, „Politiker“ oder „Banker“ verantwortlich machen.
Gerd Bedszent
Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hrsg.) „Die Frage nach dem Ganzen. Zum gesellschaftskritischen Weg des Ökumenischen Netzes anlässlich seines 25jährigen Bestehen“, Eigenverlag, 384 Seiten, Bezug gegen Spende.
Quelle: junge Welt, Dienstag, 26. März 2019, Nr. 72