Das Evangelium nach Johannes – Teil 23: Johannes 8,31-47
Johannes hat die bisherigen Streitgespräche Jesu in Jerusalem mit der Bemerkung abgeschlossen: „Als Jesus das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn.“
Um sie geht es in den folgenden Versen:
31 Da sagte er zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. 32 Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien. 33 Sie erwiderten ihm: Wir sind Nachkommen Abrahams und sind noch nie Sklaven gewesen. Wie kannst du sagen: Ihr werdet frei werden? 34 Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde. 35 Der Sklave aber bleibt nicht für immer im Haus; nur der Sohn bleibt für immer. 36 Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei. 37 Ich weiß, dass ihr Nachkommen Abrahams seid. Doch ihr sucht mich zu töten, weil mein Wort in euch keine Aufnahme findet. 38 Ich sage, was ich beim Vater gesehen habe, und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt. 39 Sie antworteten ihm: Unser Vater ist Abraham. Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr Kinder Abrahams wärt, würdet ihr die Werke Abrahams tun. 40 Jetzt aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit verkündet hat, die ich von Gott gehört habe. So hat Abraham nicht gehandelt. 41 Ihr vollbringt die Werke eures Vaters. Sie entgegneten ihm: Wir stammen nicht aus Unzucht, sondern wir haben nur den einen Vater: Gott. 42 Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern er hat mich gesandt. 43 Warum versteht ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören. 44 Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge. 45 Mir aber glaubt ihr nicht, weil ich die Wahrheit sage. 46 Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen? Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht? 47 Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid.
31 Da sagte er zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. 32 Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien.
Diejenigen, die „zum Glauben an ihn gekommen waren“ werden jetzt als „Juden“ gekennzeichnet. Der Verlauf der Auseinandersetzung lässt erkennen, dass es sich um Juden handelt, die jetzt nicht mehr an Jesus glauben, d.h. ihm als Messias nicht mehr vertrauen und die Gemeinde verlassen haben. Sie sind nicht ‚geblieben‘, sondern gegangen. Damit greift Johannes das Problem des Auseinanderfallens der messianischen Gemeinde wieder auf, dass er nach der Brotvermehrung und der Brotrede bereits in Kapitel 6 thematisiert hatte. „Daraufhin“ so schreibt er – „zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher“ (6,66). Um diesem Bruch entgegenzuwirken, betont Johannes das ‚Bleiben‘. Dieses Stichwort und die mit ihm zusammenhängende Problematik taucht als zentraler Inhalt in den Abschiedsreden (15 – 17) wieder auf. Es geht um das ‚Bleiben‘ in der messianischen Gemeinde, also um ihren Zusammenhalt, ihre Einheit angesichts der Gefahr, aus der Synagoge ausgestoßen zu werden (16,2).
Sie werden ausgestoßen, weil die Messianer ihrerseits Zusammenhalt und Einheit des Synagogenverbandes bedrohen. Wenn Rom messianische Umtriebe wittert, ist es aus mit der römischen Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt. Dann geht es darum, das Imperium vor Illoyalität und Umsturz zu schützen. Daher fühlt sich die Synagoge von den Messianern bedroht, die sich als messianische Juden selbstverständlich in ihrem Raum bewegen.
Die Messianer wiederum verloren beim Ausschluss aus der Synagoge den Schutz einer ‚erlaubten Religion‘. Ohne diesen Schutz sind sie als Messianer unmittelbarer der Verfolgung durch Rom ausgeliefert. Angesichts dieser bedrohlichen Situation stellt sich für manche die Frage: Sollen wir beim Messias Jesus ‚bleiben‘ oder doch lieber gehen und im Schutz der Synagoge leben? Diese Frage dürfte sich vermischen mit der skeptischen Frage, ob denn ein Messias wie Jesus Vertrauen verdient, da er doch am Kreuz der Römer gescheitert ist und keine unmittelbare Veränderung der Verhältnisse oder wenigstens eine Hoffnung darauf erkennbar ist.
Johannes jedenfalls tritt für das ‚Bleiben‘ beim Messias und in der messianischen Gemeinde ein. Er beschreibt das Bleiben als Bleiben „in meinem Wort“, also in Jesu Wort. Das macht inhaltlich das Jünger sein aus. Jesu Wort ist „eins“ mit dem Vater. So beansprucht Johannes: Wer beim Wort des Messias bleibt, hält das Wort der Tora, hält also an der Wahrheit fest, die Israels Gott verspricht.
Diese Wahrheit ist die Wahrheit der Befreiung. Sie ist verbunden mit dem Namen von Israels Gott, der sein Volk aus Ägypten befreit und versprochen hat, ihm auf den Wegen der Befreiung die Treue zu halten. Wer Gottes Wort hält und daran festhält, hält seinerseits Israels Gott und seinen Wegen der Befreiung die Treue.
Dafür steht der Messias Jesus. Und genau darin sehen andere Juden einen Bruch mit der Tora und darin mit Israels Gott.
Diese Wahrheit in der Nachfolge des Messias zu leben ist jedoch gefährlich. Der Gemeinde droht der Ausschluss aus dem Synagogenverband und damit der Verlust des Schutzes vor Römischen Übergriffen. Johannes ist sich bewusst, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinde eine lebensgefährliche Angelegenheit ist. Gehen kann das eigene Leben (für den Moment) retten, aber, für Johannes, um den Preis der Rettung Israels. Daher fordert er zum Bleiben auf und macht es zum Kriterium von Glaube und Wahrheit. „Glaube wird authentisch in gelebter Solidarität mit den Verfolgten.“[1]
33 Sie erwiderten ihm: Wir sind Nachkommen Abrahams und sind noch nie Sklaven gewesen. Wie kannst du sagen: Ihr werdet frei werden?
Die Gruppe der Juden, die zum Glauben gekommen waren, versteht, ganz in der jüdischen Tradition, frei werden als Gegensatz zu versklavt. Als „Nachkommen Abrahams“ sind sie aus Ägypten befreit und nun frei. Das aber können sie nur sagen, wenn sie von den konkreten Verhältnissen, also der realen Unterdrückung durch die Römer absehen, also abstrahieren. So wird die Berufung auf Abrahams Kindschaft im Blick auf die realen Verhältnisse zu einer rein formalen Aussage.
Die ‚Nachkommen Abrahams‘ sind nicht gleichsam per Abstammung ontologisch frei. Sie „waren nicht immer frei. Sie waren Sklaven in Ägypten und sind aus dem Sklavenhaus befreit worden. Im Weg der Befreiung aus der Sklaverei gründet die Geschichte Israels. […] Freiheit ist nicht schon durch die Abstammung von Abraham gegeben. Sie wird erst durch den Weg der Befreiung erreicht, den Abraham und seine Nachkommen gegangen sind.“[2] Diesen Weg gilt es, unter der Herrschaft der römischen Weltordnung zu gehen. Darin müssen sich die Kinder Abrahams bewähren. Wer sich darin nicht bewährt, sondern sich der Weltordnung anpasst, geht in die Irre, macht sich zu einem Sklaven der Weltordnung. Genau das meint „Sünde“. Und so kann Jesus fortfahren:
34 Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde.
Juden machen sich aus der Sicht des Johannes zu Sklaven der Sünde, wenn sie sich mit den römischen Verhältnissen abfinden. Darin verraten sie ihren Gott der Befreiung und negieren ihre „Nachkommenschaft Abrahams“. Johannes erläutert das in einem Bild:
35 Der Sklave aber bleibt nicht für immer im Haus; nur der Sohn bleibt für immer. 36 Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei.
In diesem Bild ist wieder das Motiv des Bleibens aufgenommen. Der Sklave ‚bleibt‘ nicht, sondern geht. Im Unterschied dazu bleibt der Sohn. Er ist der Erbe und als solcher ‚souverän‘. Er kann befreien, weil er in der Spur dessen bleibt, dessen Erbe er vertritt. Weil Jesus ‚eins‘ ist mit Israels Gott, verkörpert er sein ‚Erbe‘. Ihm hält er die Treue und kann so wirklich befreien.
Insofern gilt: ‚Wenn euch der Sohn, der für die Befreiung einsteht, befreit, seid ihr wirklich frei.‘ Er ist Gottes Zuspruch an die bedrängte Gemeinde. Deshalb fordert Johannes: ‚Bleibt in der Solidarität mit dem Sohn und den von Rom Verfolgten und ihr könnt der Ohnmachtssituation widerstehen im Vertrauen auf den von Rom gekreuzigten, von Gott aber als Erbe in der Auferweckung bestätigten Messias Jesus.
37 Ich weiß, dass ihr Nachkommen Abrahams seid. Doch ihr sucht mich zu töten, weil mein Wort in euch keine Aufnahme findet.
Den Gipfel der Sünde sieht Johannes in den immer wieder neuen Versuchen, Jesus zu töten. Eine größere Verfehlung als den, der befreit, zu töten ist für Johannes kaum denkbar. Darin ist das Ziel der Befreiung verfehlt und zugleich in sein Gegenteil verkehrt. Den Grund dafür, sieht Johannes darin, dass Gottes Wort der Befreiung bei seinen Gegnern „keine Aufnahme findet“.
38 Ich sage, was ich beim Vater gesehen habe, und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt.
Der tödliche Konflikt dreht sich um die Vaterschaft. Jesus beruft sich auf Gott als seinen Vater. Ihn hat niemand gesehen. Der Sohn aber, der mit dem Vater eins ist und „am Herzen des Vaters ruht“, kann von ihm „Kunde“ bringen (1,18) und sagen was er „beim Vater gesehen“ hat. Mit ihrer Absicht, den „Sohn“ als „Erben des Vaters“ zu töten, folgen diejenigen, die Jesus töten wollen einem anderen Vater. Sie tun, was sie von diesem Vater gehört haben.
39 Sie antworteten ihm: Unser Vater ist Abraham. Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr Kinder Abrahams wärt, würdet ihr die Werke Abrahams tun. 40 Jetzt aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit verkündet hat, die ich von Gott gehört habe. So hat Abraham nicht gehandelt.
Als Kinder Abrahams können sie sich erst bezeichnen, wenn sie als Befreite handeln und dem Töten widerstehen. Sie aber wollen denjenigen töten, an dem die Wahrheit Gottes hängt. Johannes deutet die Geschichte vom sog. Opfer des Isaak mit dem Akzent, dass Abraham seinen Sohn nicht getötet hat. Franz J. Hinkelammert hat diese Geschichte als Widerstand gegen ein Gesetz interpretiert, das zu töten befiehlt[3]. Daran anknüpfend lässt sich sagen: „Die Geschichte endet damit, dass Abraham mit seinen Knechten an einen neuen Ort zieht, um sich dort anzusiedeln (Gen 22,19). Offensichtlich konnte Abraham nicht in seiner alten Heimat bleiben. Dies wird verständlich, wenn wir davon ausgehen, dass Abraham sich einem in seiner Heimat herrschenden Gesetz, das befahl, seinen Sohn zu opfern, widersetzt hat. Den Befehl zum Töten gibt eine Gottheit. Im hebräischen Text steht an dieser Stelle ha elohim, das mit Gott, Gottheit, das Göttliche übersetzt werden kann. Der Engel jedoch, der Abraham mit dem Befehl ‚Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus …‘ (V.17) anspricht, wird im Text ‚Engel des Herrn‘ (V.11) genannt und damit eindeutig als Stimme des Gottes Israels gekennzeichnet. Damit ist unsere Geschichte eine Geschichte der Versuchung Abrahams. Der Stammvater Israels ist der Versuchung ausgesetzt, einem kulturell-religiösen Gesetz zu folgen, nach dem ein Mensch geopfert werden soll, um einen Bann oder einen Fluch zu brechen. Diesem Gesetz ist Abraham nicht gefolgt, sondern hat in der Versuchung zwischen Götzen und Gott unterschieden. Er hat sich daran gehalten, dass Israels Gott nicht das Opfer von Menschen verlangt; er hat sich daran orientiert, dass diese ihm vielmehr ein Greuel sind.
Die Unterscheidung zwischen dem Gott Israels und den Götzen, die Menschenopfer verlangen, wird Dtn 12,29-31 gefordert. Israel soll sich von den Völkern unterscheiden, die solchen Götzen folgen: „Wenn du dem Herrn, deinem Gott dienst, sollst du nicht das gleiche tun wie sie; denn sie haben, wenn sie ihren Göttern dienten, alle Greuel begangen, die der Herr hasst. Sie haben sogar ihre Söhne und Töchter im Feuer verbrannt, wenn sie ihren Göttern dienten.“ (Dtn 12,31)
Im Widerstand gegen die Versuchung, Götzen des Todes statt dem Gott des Lebens zu folgen, hat Abraham sich von den Götzen und ihren Gesetzen befreit – und seinen Sohn nicht getötet. Damit steht er in der Linie der Propheten, die sogar Tier- und Pflanzenopfer als unangemessene Opfergaben für den Gott Israels ansehen, sondern im Tun von Barmherzigkeit, von Gerechtigkeit und Frieden das erkennen, was Gott gefällt.“[4]
41 Ihr vollbringt die Werke eures Vaters. Sie entgegneten ihm: Wir stammen nicht aus Unzucht, sondern wir haben nur den einen Vater: Gott.
Weil sie nicht so handeln wie Abraham, der nicht getötet hat, sondern das Gegenteil tun, können sie keine Kinder Abrahams sein, sondern gehören zu einem anderen Vater, dessen Werke sie tun. Dennoch beharren sie darauf Gott zum Vater zu haben. Dabei verweisen sie darauf, dass sie nicht „aus Unzucht“ abstammen.
Mit Unzucht (porneia: Ehebruch, Unzucht) wird in Israel die Untreue gegenüber dem Gott der Befreiung beschrieben. Diese Sünde begeht, wer sich Götzen unterwirft, die Herrschaft legitimieren. Jesu bzw. Johannes Gegner wehren sich dagegen, dass sie mit Rom Unzucht treiben, also Kinder Roms, statt Kinder Abrahams sein sollen.
42 Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern er hat mich gesandt.
Wenn unsere Übersetzungen des Johannes-Evangeliums von ‚lieben‘ und ‚Liebe‘ sprechen, ist nicht einfach auf eine individuelle Beziehung der Liebe angespielt. Gemeint ist ‚solidarisch sein‘ bzw. ‚Solidarität‘. Von daher müssen wir sagen: Wenn Gott euer Vater wäre, wärt ihr mit mir solidarisch. Jesus, der sich ganz aus der Einheit mit dem Befreiergott Israels versteht, erwartet die Solidarität derer, die sich Kinder Abrahams nennen.
Für Johannes, der Jesus in der Einheit mit Israels Gott und seiner Befreiung sieht, ist es undenkbar, dass sich die, die sich als Kinder Abrahams verstehen, dem Römischen Imperium beugen und in Erfüllung seiner Gesetze töten.
43 Warum versteht ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören. 44 Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.
Sie verstehen nicht, was er sagt, weil sie nicht imstande sind auf sein Wort zu hören. Sie sind verstrickt in die Ordnung des römischen Reiches. Rom sichert seine Macht dadurch, dass diejenigen, die ihm widerstehen im Zweifel getötet werden. Genau das verlangt die Erfüllung des römischen Gesetzes. Das ist teuflisch, im wörtlichen Sinn ‚diabolisch‘. Durcheinandergeworfen bzw. vertauscht werden Wahrheit und Lüge. Wahrheit hängt dann nicht an der Befreiung, sondern an der Sicherung römischer Herrschaft. Wahre Verhältnisse sind nicht Verhältnisse in denen Menschen befreit leben können, sondern unwahre Verhältnisse, in denen die Macht Roms gesichert ist. Dafür werden in Erfüllung der Loyalität gegenüber der römischen Herrschaft Menschen getötet.
In diesem Sinne ist der Teufel, der Diabolos, ein Mörder nicht zeitlich „von Anfang an“, sondern vom Ursprung seines Wesens.
Mit der Wahrheit der Treue zur Befreiung hat das nichts, aber ganz und gar nichts zu tun. Darauf will Johannes mit Formulierungen hinaus wie „nicht in der Wahrheit“, „keine Wahrheit“, „Lügner“, „Vater der Lüge“.
Von seinem Ursprung her ist Rom auf Macht, Herrschaft und Unterdrückung aufgebaut. Es ist eine porneia, ein Götzendienst, ein totaler Bruch mit Israels Gott der Befreiung. An Rom gibt es folglich nichts zu retten. Es ist keine Wahrheit an sich und in sich.
45 Mir aber glaubt ihr nicht, weil ich die Wahrheit sage.
Diesen Satz formuliert Jesus als Fazit aus dem soeben Gesagten. Wer mit der Lüge, die Rom darstellt, verbunden ist, kann Jesus nicht vertrauen. Er verkörpert das Gegenteil, in dem, was Rom ist: die Wahrheit der Befreiung gegen die mörderische Verdrehung eines Systems, das tötet um seine Herrschaft zu sichern. Wer diesem System gegenüber loyal ist, kann der Wahrheit nicht vertrauen, die in dem Messias Jesus lebendig ist.
46 Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen? Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?
Die rhetorische Aufforderung Jesu ihm eine Sünde nachzuweisen, ergibt sich für Johannes aus dem Einssein mit Israels Gott. Wer aus der Treue mit der Befreiungsgeschichte Israels lebt, kann keine Sünde begehen, sich nicht Götzen unterwerfen. Eine solche Verfehlung, sich einer fetischisierten Macht zu unterwerfen, kann nicht begehen, wer ganz aus der Wahrheit von Israels Gott lebt.
Das Evangelium des Johannes „kann geradezu als Gegeninszenierung zum römischen Kaiserkult gelesen werden, in dem der Kaiser als „Sohn Gottes“ ‚verherrlicht’ wird. Für Johannes zeigt sich die ‚Herrlichkeit’ Gottes im Kreuz des von den Römern hingerichteten und erniedrigten Messias. Wenn Johannes die Geschichte dieses erniedrigten, von Gott aber auferweckten Messias Jesus als Geschichte des „Sohnes Gottes“ erzählt, bestreitet er die Ansprüche des Imperiums auf Gesetzlichkeit und Autorität.“[5]
Doch angesichts der Übermacht des römischen Imperiums können sich viele keine andere Welt vorstellen. Dennoch findet sich Johannes auch damit nicht ab, sondern fragt zweifelnd und verzweifelt: „Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?“
47 Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid.
Für Johannes ist damit der Vorwurf verbunden, „Ihr seid nicht aus Gott“. Wäre euer Vertrauen in den Gott der Befreiung groß genug, würdet ihr nicht daran zweifeln, dass die Herrschaft Roms nicht das ‚letzte Wort‘ haben kann. Statt darauf zu vertrauen, wollen sie lieber den widerständigen Messias aus dem Weg schaffen.
Hier wird der Widerspruch am größten.
Die Tötung Jesu geschieht nach Johannes in Erfüllung des römischen Gesetzes und dieses ist gottlos, da es nicht dem Leben dient.
In Erfüllung des Wertgesetzes werden heute Flüchtlinge verfolgt und ins Meer getrieben. Man kann von strukturierter Bestialität sprechen. Die Treue zur Verwertung und zum Kapital wird verwechselt mit der Treue zur Tora und der Verpflichtung niemandem zum Opfer zu machen.
„Die Gesetzlichkeit eines Aktes misst sich an seiner Vereinbarkeit mit dem Gesetz, nicht an seiner Vereinbarkeit mit dem Leben. Im Namen dieser Gesetzlichkeit werden in Gesellschaften, die sich für aufgeklärt und zivilisiert halten, Menschen geopfert.
Christen müssten erkennen: „So hat Abraham nicht gehandelt.“ (V. 40) In dieser Tradition steht der Messias Jesus. Er räumt dem lebendigen Menschen, seinem Schrei nach Leben und Rettung den Vorrang vor der Erfüllung des Gesetzes ein. Dies bringt ihn in Konflikt mit dem Gesetz. So wird er ‚im Namen des Gesetzes’ hingerichtet. Indem Gott diesen Hingerichteten auferweckt, gibt er ihm recht und setzt das Gesetz, in dessen Namen er hingerichtet wurde, ins Unrecht. […]
Heute fordert der Kapitalismus das Bekenntnis der Christen heraus. Die Frage des Bekenntnisses verbindet sich mit einem Streit um die Wirklichkeit. Die Frage, wie die Wirklichkeit gesehen und in ihr gehandelt wird, ist von der Frage nach Gott nicht zu trennen. Ohne analytische Kompetenz, ohne Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit – und damit auch nicht ohne Gefahren des Irrtums – kann nicht zwischen Gott und Götzen unterschieden werden.“[6]
Zusammengestellt von Alexander Just
[1] Herbert Böttcher, Biblische Gegenwelten, in Der Gott Kapital, Anstöße zu einer Religions- und Kulturkritik, Pax Christi Kommission Weltwirtschaft (Hg.), 75-91, 79. [Böttcher, Gegenwelten.]
[2] Böttcher, Gegenwelten 79.
[3] Vgl. Franz J. Hinkelammert, Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens, in: Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens. Opfermythen im christlichen Abendland, Münster 1989, 17 – 82; ders., Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung, Luzern 2001, 63ff.
[4] Böttcher, Gegenwelten 80f.
[5] Böttcher, Gegenwelten 82.
[6] Böttcher, Gegenwelten 85.