Statt Mythos: Befreiung – Erwählung – Schöpfung
Unser Psalm ist ein Lobgesang auf Israels Gott, der seine Zuwendung zu seinem Volk Israel in dessen Erwählung und sich in der Schöpfung als Herr der Welt erweist. Die Erwählung gründet in der Befreiung von in Ägypten Versklavten. Auf den Wegen der Befreiung werden sie Gottes Volk. Die Verbindung zwischen Israels Gott und seinem Volk findet seinen Ausdruck im Bund. Er ist mit Gottes Versprechen verbunden, seinem Volk die Treue zu halten. Dem entspricht die Treue des Volkes zu den Wegen der Befreiung. Die Vorstellung von der Schöpfung steht in Israel im Zusammenhang der Befreiung. Gott, der sein Volk befreit und erwählt hat, ist zugleich der Schöpfer und Herr der Welt. Dieser Gedanke – aus anderen Religionen übernommen und der Geschichte untergeordnet – gewinnt seine Konturen in der Auseinandersetzung mit Schöpfungsmythen, die Israel in seiner Umwelt begegnen. Eine besondere Bedeutung haben dabei babylonische Schöpfungsmythen. Hier sind die Gestirne Ausdruck göttlicher Macht und die Menschen sind geschaffen, um als Sklav*innen den Göttern zu dienen. In solchen Mythen wird zugleich geschichtliche Herrschaft verewigt und überhöht. Gegen Mythen und deren Rechtfertigung von Herrschaft betont Israel die Geschichte, genauer die Geschichte als Ort der Befreiung von Herrschaft und der Suche nach Wegen der Befreiung. Nicht irgendwelche mythische Gottheiten, sondern Israels Gott der Befreiung ist Herr der Geschichte und zugleich Schöpfer der Welt und darin Gott aller Völker.
Krisen und Katastrophen
In seiner Geschichte ist Israel nicht nur Wege der Befreiung gegangen. Sie waren zugleich von Abwegen wie von Untergängen und Katastrophen gekennzeichnet. Eine davon dürfte im Hintergrund unseres Psalms stehen: die Zerstörung des Tempels durch die Babylonier und die Verschleppung großer Teile des Volkes, vor allem der Oberschicht nach Babylon. Was Israels Geschichte in all dem kennzeichnet ist die Erinnerung – die Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten wie auch an die Irr- und Abwege der eigenen Geschichte. Diese Erinnerung ist nicht bestätigend und beschwichtigend, sondern selbstkritisch und darin aufrichtend. So konnte in der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte – vor allem mit den Irr- und Abwegen, die mit dem Königtum verbunden waren – die Hoffnung keimen:
„Der Herr baut Jerusalem auf, er sammelt die Versprengten Israels…“ (V. 2f.)
Unser Psalm hat wahrscheinlich den Aufbau Jerusalems nach der Rückkehr aus dem Exil im Blick. Hier geschieht das, wofür Gottes Name in der Geschichte Israels steht: Gott „heilt die gebrochenen Herzens sind, er verbindet ihr Wunden“ (V. 3) und „hilft auf den Gebeugten… (V. 6). So richtet er auch das am Boden liegende und verwundete Jerusalem wieder auf. Damit verbinden sich Hoffnungen auf eine neue Sammlung Israels – nicht mehr unter der Herrschaft eines Königs, sondern auf den Spuren der Tora wie sie von Propheten verstanden wurde. So kann Jerusalem zu einem Symbol der Rettung und Befreiung werden, zu einer Stadt, die nicht mehr „Verlassene“ und deren „Land nicht mehr Verwüstung“ genannt wird, sondern „Vermählte“ Gottes (Jes 62,4). In die mit Jerusalem verbundenen Hoffnungen werden auch die Völker einbezogen, so dass Jerusalem zum „Licht“ für die Völker (Jes 60) werden kann. Kein Wunder, dass sich an Jerusalem die Hoffnung „auf einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Jes 64,17) entzündet und hineinreicht in die Bilder der Offenbarung des Johannes vom „neuen Jerusalem“ als Gottes neuer Stadt, in der die Macht Roms ist und alle Herrschaftsverhältnisse überwunden sind, weil Gott als „Herrscher über die ganze Schöpfung“ ihr „Herr“ ist (Offb 21,22). Dann ist auch die mythologische Macht der Gestirne ‚entmythologisiert‘; denn „die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die in ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offb 21,23), der von Rom hingerichtete Messias.
„Er bestimmt die Zahl der Sterne… (V. 4)
Kein anderer als der Gott, der Jerusalem aufrichtet, ist Herr der Schöpfung und der ganzen Welt. Er ist nicht nur Schöpfer am Anfang der Welt. Seine schöpferische Kraft zeigt sich auf den Wegen der Befreiung, in der Kraft nach Abwegen Neues zu erschaffen, ein neues Jerusalem, einen neuen Anfang für sein Volk, einen neuen Himmel und eine neue Erde, die neue Stadt am Ende der Zeit, „die Wohnung Gottes unter den Menschen“ (0ffb 21,3). Da wird er „alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“ (Offb 21,4).
„Stimmt dem Herrn ein Danklied an…“ (V 7ff)
Das Loblied auf Gott den Befreier und Schöpfer wird zum Danklied derer, die er aus Elend und Verzweiflung wie Jerusalem neu aufgerichtet hat. Sie können samt der Tiere neu von dem leben, was die Schöpfung als Grundlagen des Lebens schenkt. Hier haben die „Frevler“ (V. 6), d.h. diejenigen, die mit Gewalt ausbeuten und Herrschaft ausüben, keinen Platz. An ihnen und ihren Machtsymbolen – „der Stärke der Rosse“, „der Kraft der Helden“ – hat Gott „keinen Gefallen“ (V. 10). Den findet er an denen, „die ihn fürchten“ (V. 11). ‚Gottesfurcht‘ meint nicht Angst vor Gott, sondern Furchtlosigkeit gegenüber denen, die als „Frevler“ ihre Macht ausüben. Sie entsteht aus dem Vertrauen auf den Gott der Befreiung, das Raum gewinnt unter denen, die „auf seine Liebe warten“ (V. 11), d.h. auf seine Treue und Solidarität.
„Er verschafft deinen Grenzen Frieden…“ (V. 13)
Jerusalem soll endlich in Frieden leben können. Deshalb sind „die Riegel deiner Tore festgemacht“. So sind „die Kinder in deiner Mitte gesegnet“ (V. 13). Alle werden satt – und das „mit bestem Weizen“ (V. 14). Wurzel des Friedens ist Gottes schöpferisches Wort, das er zur Erde sendet (V. 15). Von ihm heißt es bei Jesaja: „Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe“ (55,11).
„Er verkündet Jakob sein Wort…“ (V. 19)
Die schöpferische Macht des Wortes wirkt auch nach innen, d.h. im Blick auf das Leben Israels als von Gott befreites und darin erwähltes Volk. Diesem Volk hat Gott die Tora als Weisung für Wege der Befreiung geschenkt. Sie soll in diesem Volk schöpferisch zur Geltung kommen. So kann an den Wegen des erwählten Volkes auch von anderen Völkern erfahren werden, wie Gott als Befreier und Schöpfer ‚geschieht‘ und geschehen lässt, was er mit seinem Namen für alle Völker versprochen hat.
Jerusalem – dem Terror und dem Antisemitismus ausgeliefert
Der Kontrast zwischen den biblischen Hoffnungen, die für Israel mit Jerusalem verbunden sind, und dem auf die Vernichtung Israels und der Juden zielenden Terror der Hamas, den wir gegenwärtig erleben, könnte kaum größer sein. Denn die mit Jerusalem verbundenen Hoffnungen beziehen sich auf ganz Israel und darin auf alle Völker. Insofern kann der Anschlag auf Israel verstanden werden als Anschlag auf eine Hoffnung, in die alle Völker einbezogen sind. Exekutiert wird er an Israel als Staat und seinen Bürger*innen.
Dennoch erfahren Israel und die Jüdinnen und Juden weltweit nur wenig Solidarität. Stattdessen ergießt sich eine Welle des Antisemitismus über Israel. Israel und Juden weltweit fühlen sich allein und im Stich gelassen. Israel aber darf nicht allein gelassen werden. Solidarität mit Jüdinnen und Juden ist das Gebot der Stunde. Jetzt geht es darum, an der Seite eines von antisemitischem Vernichtungsterror bedrohten Staates und aller Juden zu stehen. Der Staat Israel wurde gegründet als Rettungsort für von Vernichtung bedrohte Juden, als „Haus gegen den Tod“1. Hier sollten alle Juden endlich sicher sein können. Seit der Zerstörung Jerusalems durch Rom hatten sie keinen Ort mehr, an dem sie auf Dauer gemeinsam sicher leben konnten. Immer hing ihr Leben von dem Schutz nicht-jüdischer Mächte ab, bis sie schließlich schutzlos der Vernichtung durch die Nazis ausgeliefert waren.
Geschichte und Erinnerung statt Mythos
Was wird aus Israel, was den Jüdinnen und Juden weltweit, was aus Jerusalem als dem Symbol von Rettung und Befreiung? Wo Vernichtung als Ziel ausgegeben wird, entsteht – so die Schriftstellerin Elfriede Jellineck – „ein saugendes Vakuum“, eine saugende Leere, die alles in den Abgrund zu reißen droht. Statt ‚Tauet Himmel‘ tun sich Abgründe auf. Die biblischen Traditionen Israels zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Abgründen der Geschichte standhalten. Das biblische Israel lässt sich nicht von Mythen trösten und beruhigen, die davon erzählen, alles sei eingebettet in die ewigen Kreisläufe der Natur und so sei und werde alles gut. Weil Israel der Geschichte treu bleibt, lässt es sich auch nicht von Mythen verführen, die von einem ewigen Kampf des Guten gegen das Böse erzählen. Israels Glaube ist keine betörende Droge – weder betäubendes Opium noch Anfeuerung zum Kampf. Stattdessen erzählt die Bibel davon, dass sich Israel kritisch und selbstkritisch mit seiner Geschichte und geschichtlichen Verhältnissen der Herrschaft auseinandergesetzt. Es ist der Geschichte und darin seinem Gott treu geblieben, der versprochen hat, seinem Volk einen Weg der Befreiung durch die Geschichte zu bahnen. Inmitten geschichtlicher Katastrophen hat Israel nicht nach beschwichtigenden und betörenden Mythen gesucht, sondern nach Gott geschrien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So heißt es in den Gebeten Israels.
Dieser Schrei nach Gott speist sich aus der Erinnerung an die Geschichte. Die Vorfahren haben doch davon erzählt, dass sie dem Gott vertraut haben, der sie aus Ägypten befreit hat. Und sie „wurden nicht zuschanden“ – so heißt es in den Psalmen. Diese Erinnerung ist etwas anderes als das, was uns bei offiziellen Gedenktagen angesichts des Terrors der Nazis begegnet. Da soll das Gedenken die Normalität der Verhältnisse festigen. Nicht in den Blick kommt die Kritik der Verhältnisse, aus denen Antisemitismus entspringt. Solches Gedenken ist immun gegenüber der Mahnung des Philosophen Max Horkheimer, der 1939 angesichts faschistischer Herrschaft in Deutschland schrieb: „Wer … vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“2. Im Blick hatte er dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus, die angesichts der gesellschaftlichen Krisen der wesentliche Nährboden für den Antisemitismus darstellen. In der „Dialektik der Aufklärung“ wird er zusammen mit Adorno deutlich machen, dass dieser Nährboden „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“3 ist. Damit wird sie gesellschaftlich unsichtbar und ungreifbar. Das gesellschaftlich Unsichtbare und Ungreifbare kann aber über Projektion auf ‚die‘ Juden sichtbar und greifbar gemacht werden. Als vermeintliche Herren des Geldes und des Geistes sollen sie die Schuldigen für das sein, was die einzelnen ohnmächtig macht und den gesellschaftlichen Krisen ausliefert. Solange diese Verhältnisse fortbestehen, haben die Zusammenhänge bestand, denen der Antisemitismus der Moderne wesentlich entspringt. Erinnerung müsste genau diese Zusammenhänge erinnern und reflektierbar machen.
Da wäre von Israels Gedächtnis zu lernen. Es stellt die Normalität der Verhältnisse in Frage. Es ist gleichsam ein An-Denken gegen die herrschenden Verhältnisse – sowohl des eigenen Königtums wie die Unterwerfung unter Babylon und Rom. In ihm steckt die Kraft selbstkritischer Analyse geschichtlicher Herrschaft ebenso wie die Weigerung, sich damit abzufinden. Diese An-Denken prägt auch die Erinnerung an den Messias Jesus, seinen Tod und seine Auferweckung. Johann Baptist Metz beschreibt sie als eine „gefährliche Erinnerung, die unsere Gegenwart bedrängt und in Frage stellt, weil wir uns in ihr an unausgestandene Zukunft erinnern.“ Herbert Marcuse zitierend heißt es weiter: „Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der ‚Vermittlung‘, die für kurze Augenblicke die allgegenwärtige Macht der Tatsachen durchbricht. Das Gedächtnis ruft vergangene Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück.“4
Herbert Böttcher
1Johann Baptist Metz, Christen und Juden nach Auschwitz. Auch eine Betrachtung über das Ende bürgerlicher Religion, in: ders. Mit dem Gesicht zur Welt. Gesammelte Schriften, Band 1, 167 -181, 180.
2Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: ders., Gesammelte Schriften Band 4: Schriften 1936 – 1941, Frankfurt am Main 22009, 308 – 331, 308f.
3Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Band 3, Frankfurt am Main 2003, 197.
4Johann Baptist Metz, „Politische Theologie“ in der Diskussion (1969), in: ders., Im dialektischen Prozess der Aufklärung. Gesammelte Schriften Band 3/1, Freiburg im Breisgau 2016, 27 – 60, 46. Das Zitat von Herbert Macuse, in: ders., Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, 117.