Kontrollverlust und Schneckenhaus

Die AfD ist auf Erfolgskurs. Das ist Ausdruck einer gefährlichen Stimmungslage. Der Gewaltforscher Heitmeyer sieht sie im Zusammenhang mit Krisen und Kontrollverlusten. Die AfD profitiert davon, dass die Krisen aus dem Ruder laufen und kein Weg erkennbar ist, wie sie politisch zu bewältigen sind. Da ist die AfD so ratlos wie auch die anderen Parteien. Dennoch scheinen ihre illusionären wie autoritären und menschenverachtenden Angebote ‚die‘ Menschen da abzuholen, wo sie stehen: bei der Sehnsucht nach Identitätsankern. Dazu gehören Deutsch-Sein und Stark-Sein, eindeutige kulturelle und geschlechtliche Zugehörigkeiten, gewaltbereite Abwehr gegen alles Fremde, vor allem gegen Fliehende.

Ein anderer Trend scheint dem zu widersprechen: das eigene Zuhause als Schneckenhaus und Oase der Zuversicht, als Ort, um sich wohl zu fühlen. Die Suche nach Abgeschiedenheit von den Krisen und die Versuchungen zum Autoritären können zu einer gefährlichen Mixtur werden, wenn die autoritären und menschenfeindlichen Lösungen als Basis für private Oasen erscheinen.

Trotz aller Krisen setzen die politischen Akteure ihr Vertrauen in die kapitalistische Gesellschaftsform. In deren Rahmen aber ist keine Kontrolle mehr über all die Krisen zu gewinnen. Ehrlichkeit wäre angesagt und mit ihr die Suche nach solidarischen Formen des Zusammenlebens. Dazu könnten die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten. Aber auch sie wollen ‚die‘ Menschen da abholen, wie sie stehen: im privaten Schneckenhaus und seiner Alltäglichkeit. Wir müssen aber – so sagt es ein Theologe aus Ruanda – „ein Christentum hinterfragen, das mit einer untergehenden Gesellschaft singt und tanzt“.

Herbert Böttcher, Pastoralrefernt i.R. – zuerst veröffentlicht als Gedanken in der Umsonstzeitung „Am Wochenende“ am 12.8.23

PS: Der Text wurde zensiert. Er durfte aufgrund der Benennung einer konkreten Partei, der AfD, und vermeintlicher, inhaltsleerer politischer Neutralität so nicht veröffentlicht werden, sondern musste allgemeiner formuliert werden (anstelle von AfD sollte es heißen „rechte Parteien“). Die vermeintliche parteipolitische Neutralität als formales, also inhaltsleeres Kriterium, wird inhaltlich zur Parteinahme für die AfD. Dass die AfD auf diese Weise geschützt wird, macht deutlich, wie sehr sie in der Mitte der Gesellschaft verankert ist.