Erntedank: Von Gott sprechen mit Blick auf die Leidenden (casa comun, 3.9.22)

Politisches Abendgebet vom 3.9.22 (casa comun) als pdf zum Download

Wir sind heute zum Politischen Abendgebet zusammengekommen im Namen unseres „Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen“

Kyrie

Messias Jesus, Menschensohn

Du hast dich mitten hinein begeben in die tödlichen Katastrophen unserer Geschichte.

Herr, erbarme dich!

Gott hat dich auferweckt und deine Menschlichkeit zum Maßstab einer neuen Welt gemacht.

Christus, erbarme dich!

Die Hoffnung auf dein Kommen richtet uns auf. Sie macht uns wachsam gegenüber den Gefahren der Anpassung und der Resignation.

Herr, erbarme dich!

MUSIK: „Gracias a la vida“ (Mercedes Sosa)

Gracias a la vida, Dank an das Leben, Dank für die Grundlagen Lebens: das soll im Zusammenhang mit Erntedanke an unterschiedlichen Sonntagen im September und Oktober gefeiert werden. Und das, obwohl es in der Liturgie kein solches Fest gibt, das jährlich einfach für die Ernte dankt – ohne Bezug zur Erinnerung an die Heilsgeschichte, d.h. den Exodus aus dem Sklavenhaus Ägypten, den Widerstand gegen Griechen und Römer im Ersten und Zweiten Testament.

Erntedank ist also mit der (Heils-)/Geschichte zusammenzubringen. Wenn dies geschieht, kann das Erntedankfest nicht einfach ein Dankfest sein, das diejenigen, die aufgrund von Arbeit und Kaufkraft über den Zugang zu den Gütern der Erde verfügen, mit dem Rücken zu denen feiern, denen dieser Zugang verwehrt ist und die deshalb hungern müssen.

In den Blick geraten

  • die Arbeitsbedingungen, unter denen Menschen Nahrungsmittel produzieren müssen,

  • die Zerstörung der Schöpfung für eine ‚westlich-imperiale’ Lebensweise sowie

  • der Widerspruch zwischen stofflichem und abstraktem Reichtum, der unter dem Diktat des „Fetischismus des Geldes“ (Papst Franziskus) produziert werden muss.

MUSIK: „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen“

Lesung:

Mit dem Rücken zu denen, die unter Unrecht und Gewalt der aktuellen kapitalistischen Verhältnisse leiden, von Gott zu reden, geht an den Inhalten vorbei, die mit der biblischen Rede von Gott verbunden sind. Dies zeigt auch

Dtn (bzw. 5. Mose) 26,1-11

1 Wenn du in das Land, das der HERR, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, hineinziehst, es in Besitz nimmst und darin wohnst, 2 dann sollst du von den ersten Erträgen aller Feldfrüchte, die du in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt, eingebracht hast, etwas nehmen und in einen Korb legen. Dann sollst du zu der Stätte ziehen, die der HERR, dein Gott, erwählen wird, indem er dort seinen Namen wohnen lässt. 3 Du sollst vor den Priester treten, der dann amtiert, und sollst zu ihm sagen: Heute bestätige ich vor dem HERRN, deinem Gott, dass ich in das Land gekommen bin, von dem ich weiß: Er hat unseren Vätern geschworen, es uns zu geben. 4 Dann soll der Priester den Korb aus deiner Hand entgegennehmen und ihn vor den Altar des HERRN, deines Gottes, stellen. 5 Du aber sollst vor dem HERRN, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. 6 Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. 7 Wir schrien zum HERRN, dem Gott unserer Väter, und der HERR hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. 8 Der HERR führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, 9 er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, wo Milch und Honig fließen. 10 Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, HERR. Wenn du den Korb vor den HERRN, deinen Gott, gestellt hast, sollst du dich vor dem HERRN, deinem Gott, niederwerfen. 11 Dann sollst du fröhlich sein und dich freuen über alles Gute, das der HERR, dein Gott, dir und deiner Familie gegeben hat: du, die Leviten und die Fremden in deiner Mitte.

Einige Beobachtungen zu Dtn 26,1-11

  • Der Dank für die Ernte steht eindeutig im Zusammenhang der Heilsgeschichte, d.h. der Befreiung aus Ägypten und der Gabe des Landes. Israel hat beim Dank für die Ernte an religiöse Traditionen, die es vorgefunden hat, angeknüpft. Ihren Bezug auf die Natur hat es in den für die Religion Israels charakteristischen Zusammenhang der Geschichte gestellt.

  • Die Geschichte der Befreiung erinnert daran, dass das Land, auf dem die Früchte der Erde wachsen, eine Gabe Gottes an sein Volk ist. Der Zugang zum Land ist die Lebensgrundlage des befreiten Volkes. Land wird den Familien durch Los zugeteilt und „darf nicht endgültig verkauft (‚privatisiert’) werden“ (Lev 25,23).

  • Weil das Land und die Früchte, die es durch seine Bebauung bringt, im Zusammenhang der Heils- bzw. Befreiungsgeschichte stehen, verbinden sich mit dem Land und seiner Bebauung soziale Gesetze: Korrekturen an der Verteilung des Landes (Erlassjahr (Dtn 15) und Jobeljahr (Lev 25)), Verköstigung (Rut 2,9.14) und sofortige Bezahlung der Tagelöhner (Lev 19,13), Verbot der Nachlese (Lev 19,9f; 23,22ff), die Einbeziehung der Fremden (Lev 19,33f, Dtn 26,11), das Brachjahr (Lev 25,2ff – bzw. 3. Mose)

  • Die Dankfeste waren Ausdruck des Dankes für das von Gott geschenkte Land und der Freude über die Ernte, die bedroht war durch Unglück (Witterung, Verschuldung) und Krieg (Jes 16,9; Jer 5,17; 12,13; Mi 6,15). Hauptfeste waren z.B. das Fest der ungesäuerten Brote zu Beginn der Ernte, das Wochenfest zu Beginn der Weizenernte, das Laubhüttenfest zum Abschluss der Obsternte. Für Israel ist charakteristisch, dass die übernommenen Erntedankfeste in den Horizont der Befreiungsgeschichte gestellt werden: Das Fest der ungesäuerten Brote wurde zum Passahfest, das Wochenfest mit der Darbringung der Erstlingsgabe mit dem Bekenntnis zu Israels Gott, der aus Ägypten befreit, verbunden. Das Laubhüttenfest erinnert an das Wohnen in Hütten beim Gang durch die Wüste und wird zum Dank für die Gabe der Tora als Ernte der Befreiung. Und in Apg 2 verbindet sich diese Gabe der Tora mit der Gabe des Heiligen Geistes.

Lasst uns gemeinsam mit dem Psalm 146 unserem Gott der Befreiung, dem Gott der Armen und Unterdrückten danken:

Ps 146

1 Halleluja! Lobe den HERRN, meine Seele! / 2 Ich will den HERRN loben in meinem Leben, meinem Gott singen und spielen, solange ich da bin. 3 Vertraut nicht auf Fürsten, nicht auf den Menschen, durch den es keine Rettung gibt! 4 Schwindet sein Lebensgeist, kehrt er zurück zur Erde, an jenem Tag sind seine Pläne zunichte. 5 Selig, wer den Gott Jakobs als Hilfe hat, wer seine Hoffnung auf den HERRN, seinen Gott, setzt. 6 Er ist es, der Himmel und Erde erschafft, / das Meer und alles, was in ihm ist. Er hält die Treue auf ewig. 7 Recht schafft er den Unterdrückten, / Brot gibt er den Hungernden, der HERR befreit die Gefangenen. 8 Der HERR öffnet die Augen der Blinden, / der HERR richtet auf die Gebeugten, der HERR liebt die Gerechten. 9 Der HERR beschützt die Fremden, / er hilft auf den Waisen und Witwen, doch den Weg der Frevler krümmt er. 10 Der HERR ist König auf ewig, dein Gott, Zion, durch alle Geschlechter. Halleluja!

Was heißt es heute von Gott reden im Angesicht der Leidenden in einer immer zerstörteren Schöpfung?

  • Es bedeutet das Ganze des globalisierten Kapitalismus als Fetischsystem, als alles-bestimmenden Götzen, der auch allen einzelnen inzwischen durch Mark und Bein geht, zu begreifen. Nicht personalisiert im Anprangern von Profiteuren ist er zu überwinden, sondern im Verstehen seines Funktionierens und Brechens seiner Logiken.

  • Das bedeutet, dass ein Bruch mit dem vergötzten Denken vorzunehmen wäre, d.h. die gewohnten Kategorien von Eigentum, Wachstum, Konkurrenz, aber auch Arbeit, Geld, Demokratie und bürgerlicher Freiheit an die Wurzel gehend zu hinterfragen und zu negieren wären.

  • Dem steht der Name Gottes gegenüber, der über die geschlossene Immanenz dieser Kategorien hinausweist und eine Hoffnung beinhaltet, die eine ganz andere Art des solidarischen Lebens eröffnet, die auch immer wieder real im Fragment gelebt wird – und die sogar die Toten nicht vergisst und unter ihnen die durch Unrecht und Gewalt Verstorbenen zuerst bedenkt.

  • Auch im Abendmahl bzw. der Eucharistie kommt das Reden von Gott mit Blick auf die Leidenden als ein Dank zum Ausdruck. Er gilt dem Messias Jesus als Gottes Gabe der Befreiung für alle Menschengeschwister. Brot und Wein als Früchte der Erde und der menschlichen Tätigkeit werden zu Zeichen für das Leben, den Tod und die Auferweckung des Messias. Die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut des Messias beinhalten die Verwandlung der Welt in einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der das Land denen gehört, die es bebauen (Jes 65,17ff, bes. VV. 21-23), in der alle satt und des Lebens froh werden (Offb 21,1ff), alle – ohne Über- und Unterordnung – Platz finden an dem Tisch, an dem das Mahl der Völker gefeiert wird (Jes 25,6-10a).

  • In der Verwandlung der eucharistischen Gaben kommt die Verwandlung der Welt zur Geltung. In der verwandelten Welt ist der Zugang zu dem, was Menschen zum Leben brauchen, nicht von der Verfügung über Geld (von Kaufkraft und Lohnarbeit) abhängig. In ihrem Zentrum steht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und geschwisterlich-solidarische Formen des Miteinanders – dies wiederum impliziert auch einen entsprechenden Umgang mit der Schöpfung, damit die Erde auch weiterhin die Grundlagen des Lebens all ihrer Lebewesen sichern kann.

  • Dieser Kontrast zwischen dem Götzen-System eines patriarchalen Kapitalismus und dem Reden von Gott in jüdisch-christlicher Tradition ist es, den wir in unserem Denken und täglichem Tun, auch hier in der casa comun zur Geltung bringen müssen.

Lasst uns im gemeinsamen Gebet der ganzen Christenheit um Gottes anti-herrschaftliche Herrschaft, sein befreiendes Reich beten: Vater unser…

MUSIK: Solo le pido a dios (Leon Gieco)

Segen und Sendung

Schlaft nicht, während die Katastrophen ihren Gang gehen.

Lasst euch von Gottes Wort aufwecken und aufrichten.

Bleibt wachsam, damit Eure Herzen und Hirne nicht leer werden.

Tut das Unangepasste,

erinnert euch an Gottes Wege durch die Geschichte

denkt nach und begreift, was in der Gegenwart vor sich geht.

Lasst euch Worte und Lieder der Befreiung nicht aus dem Mund nehmen.

Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Zeit.

Dazu segnet und sendet uns der Gott der Befreiung, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist – Amen.

Texte: Herbert Böttcher, unter Mitarbeit (und vorgetragen) von Dominic Kloos; Musik: Daniel Osorio/Musikandes; Raumgestaltung (mit surrealistischen Gemälden): Mario Andruet.