Der Missbrauch sexualisierter Gewalt durch Kleriker erschüttert die katholische Kirche. Vor allem im Blick auf den ‚Fall Ratzinger‘ verdichten sich die mit dem Missbrauch verbundenen Probleme. Im Denken und Agieren des ehemaligen Papstes im Umgang mit Klerikern als Tätern sexualisierter Gewalt und ihren Opfern wird als zentrales strukturelles kirchliches Problem sichtbar: die Frage nach kirchlicher Macht und ihrer Beziehung zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Die Täter sexualisierter Gewalt müssen zur Rechenschaft gezogen werden und deren Opfer Anerkennung finden – auch materiell. Mit dieser unverzichtbaren Forderung ist es aber bei weitem nicht getan. Im Kern geht es darum, die Frage nach dem Umgang mir kirchlicher Macht und gesellschaftlicher Herrschaft zu klären.
Der ‚Fall Ratzinger‘
Diese Machtfragen verdichten sich im Blick auf Ratzingers Agieren als Theologe, Bischof und Papst. Er steht für eine Kirche, die sich in einem Abwehrkampf wähnt gegen die Aushöhlung des Glaubens durch marxistische Infiltration, die sie im Einfluss der Auswirkungen der Studentenrevolte von 1968 und vor allem der Theologie der Befreiung ausgemacht hatte, sowie gegen den ‚Relativismus‘ der Postmoderne. Gegen diese Bedrohungen sollte die Kirche theologisch formatiert und als geschlossener Sozialraum formiert formatiert werden. Die Geschlossenheit in Fragen der Moral und in Sachen des Glaubens soll die Kirche gegen Bedrohungen von außen immunisieren. Im Brennpunkt des Interesses steht immer wieder, geradezu narzisstisch, die Kirche. Ihr Dienst wird ein Dienst an der Aufrechterhaltung ihrer Machtstrukturen. Nur wenn sie diese durchsetzt, glaubt sie den vom totalitärem Marxismus und Relativismus bedrohten Menschen der Moderne und Postmoderne zu dienen. Dienst und Macht drohen in eins zu fallen.
Ekklesiozentrische Selbstbezogenheit ist diesem Verständnis der Kirche inhärent. Dahinter verschwinden die Opfer von Unrecht und Gewalt der kapitalistischen Strukturen wie auch die Opfer sexualisierter Gewalt. Im von Johannes Paul II. geteilten Kampf gegen die Theologie der Befreiung wurde der Tod zahlreicher gegen durch Unrecht und Gewalt geprägte kapitalistische Herrschaftsverhältnisse aufbegehrende ChristInnen billigend in Kauf genommen. Ihnen wurde die Legitimation entzogen, sich im Raum der Kirche gegen tödliche Bedrohungen einzusetzen. Der Theologie der Befreiung nahestehende Bischöfe und deren Pastoral der Befreiung wurden diskreditiert und über die Ernennung von Bischöfen eine innerkirchlich und gesellschaftlich macht- und herrschaftskonforme Kirche durchgesetzt. Die Kirche suchte ihren Einfluss in der Nähe gesellschaftlicher Herrschaft und ihrer Akteure sicherzustellen. Besonders signifikant wurde dies im gemeinsamen Beten von Johannes Paul II. in der Privatkapelle Pinochets. Es geht nicht wie in den kirchlichen Basisgemeinden und der Theologie der Befreiung um die Opfer gesellschaftlicher Unrechts- und Herrschaftsverhältnisse, sondern um die Sicherung institutioneller kirchlicher Macht. Die Opfer dieser Verhältnisse, vor allem diejenigen, die ihnen in der Kraft des Evangeliums widerstehen, werden in Kälte und Apathie gegenüber ihrem Leid ignoriert.
Eine analoge Kälte und Apathie kirchlicher Amtsträger wird gegenüber den Opfern sexualisierter Gewalt deutlich. Sie werden unsichtbar hinter der zentralen Aufgabe, die Kirche zu schützen und ihre theologischen Bedeutung als ‚heilige Kirche‘ hervorzuheben. In dieser Kirche gibt es zwar Sünder. Es kann aber keine ‚sündige‘ Kirche geben, in der sich ‚strukturelle Sünde‘ als innerkirchliche Machtverhältnisse ausbreiten kann. Genau darin liegt die Versuchung, die Täter lediglich als ‚Einzeltäter‘ zu sehen, in denen – so leider auch der gegenüber Fragen kirchlicher Macht und gesellschaftlicher Herrschaft sonst durchaus sensible Papst Franziskus – der Teufel von außen die Heiligkeit der Kirche bedroht. Die Sünde dringt von außen in die Kirche ein. Dagegen muss sich die Kirche wappnen. Mit der Belastung der zahlreichen ‚Einzeltäter‘ kann die Kirche dann scheinbar auch noch mit der vermeintlichen Aufklärung sexuellen Missbrauchs durch Einzeltäter entlastet werden und vermeintlich Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Mit dem theologischen Verständnis einer auch durch die Sünden Einzelner unanfechtbaren Kirche verbindet sich ein Bewusstsein theologischer und moralischer Überlegenheit der Kirche als Institution. Sie beurteilt andere, entzieht ihre eigenes institutionelles Machtverhältnis aber der Kritik durch theologische und moralische Selbstimmunisierung. Gefestigt wird diese Immunisierung und klerikal-männerbündische Selbstabschließung durch den Wahn, von einer feindlichen Welt umgeben zu sein.
Kleriker als Träger kirchlicher Macht
Träger kirchlicher Macht sind vor allem Kleriker. Das Problem ist nicht das Amt als Sakrament, als Zeichen für den Dienst, das Volk Gottes in der Erinnerung an die subversiven, weil herrschaftskritischen Traditionen des Glaubens im Vertrauen auf Israels Gott der Befreiung für die befreiende Nachfolge des Messias zusammenzuführen, sondern dessen Klerikalisierung – und der mit ihr einhergehenden Transformierung des Amtes in ein System kirchlicher Herrschaft. Der Klerus als Stand bildet sich im Zusammenhang mit der wachsenden Verankerung des Christentums in der griechisch-römischen Welt in Analogie zu den Amtsträgern des römischen Reiches und antiken Religionsdiener heraus. Damit verbunden sind entsprechende Standesprivilegien wie die Befreiung von der Reichssteuer. Für Antike wie Spätantike war zudem der Zusammenhang zwischen der kultischen Verehrung des höchsten Wesens und dem Wohl des Reiches konstitutiv. Analog entwickelt sich das Christentum zu einer von Klerikern geleiteten Kultgemeinschaft als neuer imperialer Reichsreligion, was im Mittelalter mit germanisch-verdinglichtem Einfluss seine Fortsetzung fand. Aus dem Presbyter bzw. den Presbytern (Ältesten) als LeiterInnen messianischer Gemeinden aus biblischen Zeiten wird der ‚sacerdos‘ als Kult- und Opferpriester und damit die Sarcedatolisierung des Amtes mit seiner über den Zugang zum Heil verfügenden Macht. Dies ging mit einer alles Irdische überhöhenden Auratisierung einher wie sie vor allem zum Ausdruck kam im Handeln von Priestern ‚in persona Christi‘, das Vorstellungen eines idealistischen Denkens in den Kategorien von Urbild und Abbild geschuldetet war. Dieser Zusammenhang mit dem ‚Ursprung‘ der Klerikalisierung macht noch einmal deutlich, wie tief die Frage des Amtes mit der Frage nach kirchlicher Macht und gesellschaftlicher Herrschaft verbunden ist. Vor allem die Ehrfurcht und Vertrauen erweckende klerikale Auratisierung des Amtes bildet bildet einen wesentlichen Hintergrund für die Verbrechen sexualisierter Gewalt durch Kleriker – und dafür, dass in den Gemeinden oft über bekannt werdende Taten hinweg gesehen wurde.
Ein für Geschichte und Gesellschaft blinde Theologie
Wenn es um die Frage nach den Opfern kirchlicher Macht und gesellschaftlicher Herrschaft geht, sind auch idealistische theologische Denkformen mitverantwortlich, für die nicht zuletzt Ratzinger als Theologe steht. Der – wohl nicht zufällig in der gegenwärtigen Kirchenlandschaft eher ignorierte – gesellschaftskritische Theologe Johann Baptist Metz hat in seiner ‚Theologie nach Auschwitz‘, die er auch als Kritik ‚bürgerlicher Religion‘ formulierte, immer wieder auf die mit dem idealistischen Denken in der Theologie verbundenen Ignoranz gegenüber den Opfern in der Geschichte hingewiesen: auf ihren „gefährlichen heilsgeschichtlichen Triumphalismus“, auf die „typischen Züge der Apathie und Fühllosigkeit der Sieger“, ihre „Verblüffungsfestigkeit“ angesichts geschichtlicher Katastrophen und einem „Übermaß an politischer Anpassungsgeschichte“, das verbunden ist mit einem „drastischen Defizit an politischer Widerstandsgeschichte“1. Wie blind idealistisches Denken gegenüber Zeit und Geschichte und darin gegenüber den Opfern sein kann, wird in einer Rundfunkansprache Ratzingers zur Fußballweltmeisterschaft 1978 deutlich. Sie wurde unter der Militärdiktatur in Argentinien ausgetragen. Das Endspiel fand in ‚Hörweite‘ zu den Folter- und Todeskammern dieser Diktatur statt. Immun gegenüber solch kontingenten Zusammenhängen räsoniert Ratzinger über die zweckfreie Schönheit des Spiels: „In diesem Sinn wäre das Spiel also eine Art von versuchter Rückkehr ins Paradies: das Heraustreten aus dem Alltag und seiner Lebensbesorgung in den freien Ernst dessen, was nicht sein muss und gerade darum schön ist.“2
Kirchliche Macht und ihr Verhältnis zu gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen
Wenn es in der Kirche ernsthaft um die Frage nach Macht gehen soll, ist ihr Verhältnis zu gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen ein wesentlicher Teil des Problems. Strukturen kirchlicher Macht haben sich nämlich im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse entwickelt – von der Opposition gegen römische Herrschaft im größten Teil der messianischen Schriften zu einer jahrhunderte- bzw. fast zwei jahrtausendelangen Anpassung an Strukturen gesellschaftlicher Herrschaft: an die sich in der Spätantike bildende neue Reichsreligion, an die feudale Herrschaft bis hin zur Konstitution kirchlicher Macht im Rahmen einer ‚societas perfecta‘ als Bollwerk gegen die Moderne, der Formierung der Kirche als Sozialraum gegen Marxismus und Relativismus bis hin zu den reformerischen Bemühungen um eine im Kapitalismus marktkompatible unternehmerische Kirche. In all diesen Versuchen geht es im Kern um institutionelle kirchliche Interessen, um Schutz und Sicherung der Institution und ihrer Macht.
Nicht zuletzt im Blick auf den ‚synodalen Weg‘ wäre daran zu erinnern, was Karl Rahner angesichts der Würzburger Synode in den 1970er Jahren diagnostiziert hat: das Leiden „unter einer ekklesiologischen Introvertiertheit“. „So kam es z.B. dazu, dass wir in den Zeiten des Nationalsozialismus mehr an uns selbst, an den Bestand der Kirche und ihrer Institutionen gedacht haben als an das Schicksal der Juden.“3 Dass dies nicht nur ein Problem der Vergangenheit ist, macht Rahner deutlich, wenn er sagt: „Wenn wir überzeugt sind, dass in einer sündigen Welt viel Ungerechtigkeit und Tyrannei herrschen…, dass die Sünde auch die gesellschaftlichen Strukturen mitprägt, dann müssten wir uns eigentlich wundern, wie wenig die Kirche in Konflikt gerät mit gesellschaftlichen Institutionen und Machtträgern, außer in den Fällen, wenn diese die Kirche unmittelbar und ausdrücklich selbst angreifen.“4
Umkehr zu den Opfern
Die selbstkritische Auseinandersetzung mit kirchlichen Machtstrukturen muss Ausdruck einer Umkehr von Strukturen der Herrschaft hin zu deren Opfern sein. Das gilt aktuell besonders gegenüber den Opfern sexualisierter klerikaler Macht, die oft ihr Leben lang an Traumatisierungen zu leiden haben. Dies impliziert die Übernahme von Verantwortung. Sie muss ihren Ausdruck finden im Bekenntnis von Schuld und Verstrickungen in sündige Strukturen kirchlicher Macht ebenso wie in Zeichen der Umkehr in Gestalt materieller und psychologischer Unterstützung und der Überwindung der herrschenden Strukturen kirchlicher Macht.
Zur Umkehr aus den sündigen Strukturen kirchlicher Macht gehört wesentlich die Frage nach Verhältnis zu gesellschaftlichen Strukturen der Herrschaft. Zu überwinden ist die von Rahner beklagte „ekklesiologische Introvertiertheit“, die strukturell blind macht gegenüber den Opfern innerhalb der Kirche wie außerhalb der Kirche. Der Kirche darf es nie einfach um die Kirche gehen. Sie kann nur von ihrem Dienst her verstanden werden, bei dem sie vor allem von den Opfern von Unrecht und Gewalt in die Pflicht genommen wird. Für diesen Dienst ist ‚Compassion‘ (Johann Baptist Metz), die Empfindsamkeit für das Leid der Opfer grundlegend. Sie ‚gibt zu denken‘. Solches Denken verlangt einen einschneidenden Perspektivenwechsel: von der Kirche hin zu den Opfern kirchlicher Macht wie gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Genau dies müsste den auf die Kirche verengten Blick transzendieren: aktuell hin auf die Opfer kapitalistischer Herrschaftsverhältnissen. In der sich immer mehr zuspitzenden Krise des Kapitalismus werden sie sichtbar in Menschen, denen durch die Zerstörung der Umwelt die Lebensgrundlage entzogen wird, in Fliehenden, die vor den Grenzen Europas im Mittelmeer ertrinken und, wenn sie Land erreichen, in menschenunwürdigen Abschiebelagern landen, bis hin zu den Opfern von Bandenkriegen in zerfallenden Staaten und weltweiten Prozessen sozialer Spaltung – all das inmitten einer gefährlichen Pandemie. All diese Opfer sind dadurch verbunden, dass sie Opfer der zerfallenden Herrschaftsstrukturen des Kapitalismus sind. Dies schreit nicht nach einer Kirche ‚im Kapitalismus‘ wie sie von postmodern inspirierten Reformern gesucht wird, sondern einer Kirche, die ‚im Kapitalismus‘ dessen Herrschaft delegitimiert und nach Wegen ihrer Überwindung sucht.
Solch umfassende Umkehr zu den Opfern impliziert ein anderes Verständnis und andere Strukturen des kirchlichen Amtes. Seine Autorität gewinnt es im Hören auf die Opfer kirchlicher Macht und gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen. Seine Aufgabe wäre es, im Schrei der Opfer den Schrei nach Gott zu vernehmen und in der Erinnerung all dessen, was der Name Gottes in der Geschichte Israels wie in Leben, Tod und Auferweckung des Messias beinhaltet, integriert in messianische Gemeinden Wege aus den Sklavenhäusern gesellschaftlicher Herrschaft zu suchen und in „Feldlazaretten“ (Papst Franziskus) sich um die Verwundeten, die von Herrschaft Traumatisierten zu kümmern. Diese Aufgabe des Amtes ist nicht exklusiv, aber spezifisch. Sie wird wahrgenommen als Leitung einer sozial und prophetisch dienenden Kirche, als Sorge darum, dass die Kirche auf diesen Wegen der Befreiung zusammen und in der Spur von Israels Gott und seinem Messias bleibt bzw. immer wieder neu dahin umkehrt. Dieser Dienst ist nicht mit Klerikalismus vereinbar, bringt aber das zum Ausdruck, was das Amt als Sakrament ist, ein Zeichen der Sorge um den Weg der Kirche an der Seite der Opfer von Unrecht und Gewalt und darin der Hoffnung, dass Gott sein ‚letztes Wort‘ als richtendes und rettendes Wort spreche.
1Johann Baptist Metz, Christen und Juden nach Auschwitz. Auch eine Betrachtung über das Ende bürgerlicher Religion, in: Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München/Mainz 1980, 29 – 50.
2Zitiert nach Ottmar Fuchs, Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 3/2016, 15. Dass Fuchs Ratzinger affirmativ zitiert ist ein Indikator dafür, wie sehr auch sich als reformerisch gerierende Theologie ausgesprochene Defizite an kontextuell-gesellschaftskritischem Denken offenbart.
3Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance. Wo stehen wir? Was sollen wir tun? Wie kann eine Kirche der Zukunft gedacht werden?, Freiburg im Breisgau 1972, 66ff.
4Ebd. 67.