Impuls zum krisenhaften Wesen des Kapitalismus (vom 25.6.21)

1. Kapitalismus als Produkt einer 500jährigen Geschichte

Von Europa ausgehend, hat es der Kapitalismus in den gut 500 Jahren seines Werdens und Bestehens geschafft, sich beinahe die ganze Welt und fast alle Menschen, die auf ihr leben, zu unterwerfen. Dabei hat er zwar unermesslichen und vorher nie gekannten Reichtum für Wenige auf der Nordhalbkugel geschaffen, aber auch unermessliches Elend und Leid für die meisten Menschen im globalen Süden erzeugt. Und im gleichen Zug ein wahrhaftes Menschheitsproblem: Wenn es mit unserer „Wohlstands“-Produktion so weiter geht wie bisher, wird die Erde für Menschen unbewohnbar!

1.2 Historischer Rückblick

Um zu verstehen, wie es dazu kam und was Kapitalismus heute ist, hilft ein kurzer Blick zurück. Kapitalismus war nie selbstgenügsam, sondern immer auf Ausdehnung bedacht. So entstand er auch nicht zufällig aus den Eroberungen des späten 15. und des 16. Jh. und den darauf aufbauenden frühen Formen eines Welthandels. Dieser Expansionsdrang wurde im Inneren durch das Militär, das Geldwesen und den absolutistischen Staat, der den Aufbau exportorientierter Landesindustrien ermöglichte, abgesichert und flankiert.

Mit den neuen Märkten und neuen Möglichkeiten der mechanischen Technik, der Antriebsenergie und der Arbeitsteilung entstanden aus dem Handwerk – vermittelt über das Verlagswesen – die Manufakturen und aus diesen Fabriken. Hierfür brauchte man immer mehr Kapital und mehr „hands“, also Arbeitskräfte. Diese beschaffte man sich durch die brutale, staatlich betriebene Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln, im Rahmen der von Marx so genannten „Ursprünglichen Akkumulation“. Hieraus entstand die Figur des „doppelt freien Lohnarbeiters“: Frei von feudalen Bindungen, aber auch frei von Produktionsmitteln, so dass er (oder sie) nichts zu verkaufen hatte als seine bzw. ihre nackte Arbeitskraft, die so zur Ware wurde.

Diese Ware hat aber für den Kapitalisten den besonderen Reiz, dass sie mehr Wert schaffen kann, als sie ihn in Form des Lohnes kostet. Den Mehrwert behält der Kapitalist für sich, da er als Produktionsmittelbesitzer die Arbeitskraft täglich länger beschäftigt als sie zu ihrer Reproduktion benötigt. Um möglichst viel Mehrwert aneignen zu können, wurde in der Frühzeit des industriellen Kapitalismus die tägliche Arbeitszeit bei niedrigen Löhnen möglichst weit ausgedehnt. Das ist die Methode der absoluten Mehrwertproduktion. Hierdurch akkumulierte man die Mittel, um mit Hilfe technischer und arbeitsorganisatorischer Neuerungen zur relativen Mehrwertproduktion übergehen zu können: Um den relativen Mehrwert zu erzeugen, wird der „notwendige Arbeitstag“ zur Reproduktion der Arbeitskraft durch vermehrten Einsatz von Maschinen, also durch höhere Produktivität der Arbeit verkürzt, so dass sogar die Tages-Arbeitszeit verringert und dennoch mehr Mehrwert erzeugt werden kann. Diese Form der Ausbeutung kam besonders in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zeichen der fordistischen Massenproduktion bei relativ hohen Löhnen und Massen-konsum zur vollen Blüte. Im Übergang zum 21. Jahrhundert wurden die Methoden der relativen Mehrwertproduktion wieder um Formen der absoluten Mehrwertproduktion, also niedrige Löhne und längere Arbeitszeiten, ergänzt. Dieses Phänomen weist auf gewisse Verfallserscheinungen und Widersprüche des Kapitals hin, die im Folgenden erläutert werden sollen. Kommen wir deshalb zu den Besonderheiten kapitalistischer Waren- und Reichtumsproduktion.

 

2. Der Doppelcharakter der Arbeit und der Ware/Wertform

Wie verhält es sich mit den Waren, die die Arbeitskraft erzeugt? Kennzeichen aller Waren im Kapitalismus ist ihr Doppelcharakter als Einheit von Gebrauchsgegenstand und Wertträger, von Gebrauchswert und Tausch-Wert. Da auch die Arbeit im Kapitalismus zu einer Ware geworden ist, weist sie ebenfalls diesen Doppelcharakter auf. Marx definiert diesen so: „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form, und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte“ (MEW 23, S. 61).

Wenn man nun ganz verschiedene Waren wie z.B. Bücher, Computer und Brötchen miteinander vergleichen bzw. ihren Tauschwert ermitteln will, muss es ein gemeinsames Drittes geben – und das ist die verausgabte menschliche Arbeit, die in jeder Ware enthalten ist. Allerdings nicht in ihrer konkreten Form, denn der eine Arbeiter ist geschickter oder fleißiger als der andere, sondern nur in ihrer abstrakten Form, als gleiche menschliche Arbeit, als „Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.“ (MEW 23, S. 58). Der Wert von Waren „stellt menschliche Arbeit schlechthin dar, Verausgabung menschlicher Arbeit überhaupt.“

In dieser abstrakten Form verschwinden die besonderen Qualitäten menschlicher Arbeit: Anstrengung oder Mühsal, Arbeitsfreude oder Arbeitsleid, Geschick oder die Art des Produkts, spielen hier keine Rolle, auch nicht, ob die Arbeit unter menschenwürdigen oder unwürdigen Umständen stattfindet. Alles wird reduziert auf „gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit“ (MEW 23, S. 52). Diese abstrakte Arbeit ist die Substanz des Werts und damit des Kapitals selbst.

Weder die Ware als Wertding noch der Wert und seine Substanz, die abstrakte Arbeit, sind sinnlich fassbar. Aber im Austausch der Waren taucht der Wert in Form des Geldes als das abstrakt Gemeinsame der qualitativ höchst unterschiedlichen Waren auf. Denn der Wert als „gespenstische“ Eigenschaft eines sozialen Verhältnisses benötigt einen selbständigen und erkennbaren Ausdruck – und den erhält er im Geld. Geld ist nicht bloß unschuldiges, neutrales Zahlungsmittel, sondern Ausdrucksform des Werts.

3. Gesellschaft unter der abstrakten Herrschaft des Werts

Dieser Zusammenhang führt zu einer zentralen Wesensbestimmung des modernen Kapitalismus: War das Geld in der vorkapitalistischen, eher nischenförmigen  Warenproduktion, noch Mittel zum Gütertausch, so dient es im entwickelten Kapitalismus wesentlich der Vermehrung seiner selbst, zur Produktion von abstraktem Reichtum. Aus vorgelegtem Geld soll mittels Anwendung von menschlicher Arbeitskraft in Kombination mit Produktionsmitteln mehr Geld werden. Am Anfang und am Ende des Kreislaufs steht jetzt eine abstrakte Größe: Geld, wobei an dessen Ende ein höherer Betrag stehen soll (G-W-G‘). Geld so angewandt, wird zu Kapital, zu einem sich selbst verwertenden Wert – ein prinzipiell endloser Prozess, verbunden mit einer inhärenten Wachstums- und Beschleunigungslogik.

Damit hat ein grundlegender Wechsel der Zwecksetzung der Produktionsweise stattgefunden. Im Kapitalismus geht es nicht eigentlich darum, mit Hilfe von Gebrauchsgütern menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern darum, eingesetztes Geld als Kapital zu vermehren – „Plusmacherei“ – wie Marx sagt.

Diese Verkehrung von Zweck (Bedürfnisbefriedigung) und Mittel (Arbeit und Geld) begründet die Produktion eines entfesselten, selbstzweckhaften auf sich selbst bezogenen abstrakten Reichtums, der in der Form des Geldes gleichgültig gegenüber seinen Inhalten und gleichermaßen zerstörerisch wie ziellos ist.

Hier findet auch die Macht von Kapitalisten, die als Geldbesitzer unter Anwendung von menschlichen und sachlichen Produktionsmitteln mehr aus ihrem Geld machen wollen, ihre Grenzen. Indem sie sich unter die Logik des Kapitals stellen und ihre Profitinteressen verfolgen, arbeiten sie im Rahmen der ihnen, wie den Arbeitern, vorausgesetzten Wertform und reproduzieren gleichzeitig die Verwertung des Werts. Nicht mehr die Kapitalisten – oder gar die Arbeiter oder Konsumenten – sind die Subjekte der Handlung, sondern der Wert selbst. Dieser geht nach Marx (MEW 23, S. 168f) „beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein „automatisches Subjekt“. Ein paradoxes „Subjekt“, das anscheinend aus sich selbst heraus agiert, dem aber die mit eigenem Willen und Zielen ausgestatteten Wirtschaftsakteure, die jedoch dem Wert unterworfene „Sub“-jekte sind, durch ihr Handeln Leben einhauchen.

Nicht nur die einzelnen Wirtschaftsakteure, sondern auch die übergeordnete Instanz des Staates sorgt für das Fortleben des automatischen Subjekts. Als „ideeller Gesamtkapitalist“ hat der Staat die Widersprüche und Krisen der kapitalistischen Produktionsweise zu moderieren und für ununterbrochene Kapitalakkumulation zu sorgen. Da seine Wirkungsmöglichkeiten von gelingender Kapitalakkumulation abhängen, ist auch der Staat Teil der Wertform und kann diese nicht von sich aus überschreiten.

Zusammenfassend:

Unter dem Regime des Werts gibt es keine „Herren oder Herrinnen des Kapitalismus“ sondern allenfalls Herren und Herrinnen im Kapitalismus. Alle stehen unter dem Bann des „automatischen Subjekts“, welches sie selbst hervorbringen. Sie tun es, aber sie wissen es nicht.

An dem fetischistischen Formprinzip Wert, dass vielleicht dumpf geahnt, aber nicht gewusst wird, findet alle „Interessenpolitik“, des Kapitals, der Arbeit oder des Staates, ihre Grenzen. Diese Form der Herrschaft schließt Klassenherrschaft ein und geht gleichzeitig darüber hinaus. Eine Aufhebung dieser Form würde nicht nur die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln verlangen, sondern auch die Überwindung der abstrakten Arbeit und der Wertform – ebenso wie der „Abspaltungsform“, die all das umfasst, was im männlich konnotierten „Wert“ nicht  aufgeht – was insbesondere den weiblich konnotierten Reproduktionssektor meint. Da Wert und Abspaltung dialektisch aufeinander bezogen und gleichursprünglich sind, stellen beide zusammen erst das kapitalistische „Ganze“ dar, das als gemeinsam bestimmendes Formprinzip überwunden werden muss. Aber die meisten Menschen können sich eher das Ende der Welt, als das Ende des Kapitalismus vorstellen. Das ist jedoch aufgrund seiner inhärenten Widersprüche gar nicht unwahrscheinlich. Damit komme ich zum letzten Abschnitt.

4. Wertgesetz und prozessierender Widerspruch

Die Zwänge des Wertgesetzes erscheinen gerade dann, wenn es darum geht, den in den Waren steckenden Mehrwert zu Geld zu machen, wenn also der Kreislauf von Geld-Ware-mehr Geld geschlossen werden soll. Das geschieht auf dem Markt. Erst dann entscheidet sich, ob die verausgabte Arbeit gesellschaftlich angenommen, d.h. für das Kapital produktiv wird, in dem die Produkte verkauft werden. Hierbei werden aber nicht fertige Waren oder gar ihre Gebrauchswerte miteinander verglichen, sondern nur die in ihnen enthaltene abstrakte Arbeit, gemessen an der durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit.

Schafft es ein Kapitalist in der Konkurrenz mit anderen Kapitalisten unter der durchschnittlichen Arbeitszeit zu bleiben, kann er einen Extra-Profit für sich einheimsen. Dafür muss er aber produktiver, also billiger und schneller sein als die anderen. Das geht nur mit den Methoden des relativen Mehrwerts, d.h. mit dem vermehrten Einsatz von arbeits- und zeitsparenden Maschinen. Da das aber alle machen müssen, entsteht ein ruinöser Wettbewerb um das gültige Produktivitätsniveau. Wer dieses nicht einhalten kann, wird unerbittlich aus dem Markt ausgeschieden – seien es einzelne Betriebe, Standorte, Nationen oder Weltregionen. Die bekannten Folgen sind: Aufgelassene Industriebrachen, Arbeitslosigkeit oder prekäre Arbeit, Armut, Hunger und Krankheit, verschuldete oder gar fallende Staaten, Plünderungsökonomien und kriegerische Konflikte sowie vermehrte Fluchtbewegungen.

Mit den Methoden des relativen Mehrwerts und erhöhter Produktivität verschärfen sich die Widersprüche zwischen konkret-stofflicher und abstrakt-wertmäßiger Reichtumsproduktion. Jetzt geht es dem Kapital an die Substanz, da immer mehr Arbeit aus der Produktion herausgenommen werden muss.

Das führt nicht nur zu verstärktem Druck auf die noch Beschäftigten in der „Realwirtschaft“, sondern auch zur Flucht des Kapitals auf die Finanzmärkte, um dort die Geldvermehrung weiter zu treiben. Nun soll Geld Geld hecken, ohne Umweg über die Wertproduktion durch Arbeit. Aber wenn die notwendige Verbindung zwischen Arbeit, Mehrwert und Geld immer dünner wird und schließlich reißt, kommt es unweigerlich zu Krisen, wie wir sie in der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise 2007ff. erlebt haben.

Das diesen Erscheinungen zugrunde liegende Problem hatte Karl Marx schon 1857/58 in seinen Grundrissen als „prozessierenden Widerspruch“ erkannt. Zitat: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.“

Wenn nun im Zuge der dritten mikroelektronischen und der vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0) insgesamt mehr produktive Arbeit wegfällt, als neu geschaffen wird, wird der logische Widerspruch historisch reif. Das Kapital stößt gleichzeitig an seine innere (Wert-)Schranke und an seine äußere (Natur-)Schranke. Denn mit dem vermehrten Einsatz von Maschinen wird einerseits die Produktivität und damit der stoffliche Output gesteigert, andererseits aber die in den Waren enthaltene Mehrwertmasse verringert. Da es dem Kapital aber genau darauf ankommt, müssen noch mehr Waren erzeugt werden, um den Wertverlust auszugleichen. Das aber bedeutet verstärkter Ressourcenverbrauch bei verschärfter Rationalisierung, was wiederum ein noch stärkeres Abschmelzen der Wertsubstanz zur Folge hat. Auf diese zwanghaft-verrückte Weise untergräbt das Kapital selbstzerstörerisch die Grundlagen allen Reichtums und allen Lebens. Damit aber das Ende des Kapitalismus nicht mit dem Ende der Welt zusammenfällt, brauchen wir Alternativen zum Kapitalismus, die ihn als Ganzes überwinden.

Günther Salz