Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Viele sahen darin den Sieg der kapitalistischen Marktwirtschaft. Andere – wie etwa der Gesellschaftstheoretiker Robert Kurz – machten schon damals darauf aufmerksam, dass der Zusammenbruch der staatlich gelenkten Warenproduktion der Vorbote für Krise und Zusammenbruch der liberal-kapitalistischen Gesellschaft sei. Heute spricht immer mehr dafür, dass letzteres sich als wahr erweist.
Deshalb wäre anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls statt jubelnder Selbstgewissheit selbstkritisches Nachdenken angesagt. Es müsste doch zu denken geben, dass die gegen Flüchtende errichtete ‚Mauer‘ der Abschottung unzählige Tote fordert, dass Ertrinken im Mittelmeer, politisch unterlassene und juristisch bekämpfte Hilfe kaum Entsetzen auslöst, wohl aber das kurzfristige humanitäre Öffnen der Grenzen herbe Kritik provozierte und die Flüchtlingsfrage zu einem Ferment werden ließ, in dem Rassismus und Ausländerfeindlichkeit neu aufgehen konnten. In dieser Gemengelage wurde das ‚christliche‘ Abendland gegen fremde Menschen, Kulturen und Religionen in Stellung gebracht.
Wer die Probleme von Flucht und Vertreibung in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen sieht, wird erkennen, dass die Fliehenden Opfer der zusammenbrechenden kapitalistischen Welt sind. Sie stößt auf die Grenzen der Verwertung von Kapital und auf ihre ökologischen Schranken. Opfer sind auch die in unserer Gesellschaft von Armut und Ausgrenzung Bedrohten ebenso wie viele, die in den abgehängten Regionen im Osten Deutschlands leben.
Opfer gegeneinander auszuspielen ist zynisch. Zudem widerspricht dies den jüdisch-christlichen Traditionen des Morgen- und Abendlandes. Sie sind mit dem Glauben an einen Gott verbunden, der Vater und Mutter aller ist. Er ist nicht damit zu vereinbaren, dass Mauern zwischen Menschen errichtet werden.
Herbert Böttcher (Pastoralreferent i.R.), zuerst veröffentlicht in der Rheinzeitung („Fixpunkt“, 4. Oktober 2019)