„Gute Hirten führen sanft…“

So lautet der Titel eines Buches des Soziologen Ulrich Bröckling. Darin beschreibt er die Kunst, Menschen so zu regieren, dass sie den Eindruck haben, sie regierten sich selbst. Zugespitzt formuliert: Das Ziel wäre erreicht, wenn alle wollen, was sie sollen. Zwecks Menschenführung stehen sanfte Hirten als Experten, Ratgeber, Coaches, pastorales Personal… zur Verfügung. In unterschiedlichen Tonlagen lassen sie immer wieder dieselbe Botschaft erklingen: ‚Werde du selbst!‘ Die Gesellschaft mit ihren Anpassungszwängen bleibt ausgeblendet und zugleich unkritisch vorausgesetzt. So wird die Botschaft ‚Werde du selbst!‘ zur sanften Botschaft der Anpassung an die Welt, wie sie nun einmal ist. Selbstfindung wird zur sanften Selbstunterwerfung. Damit aber ist das Selbst nicht gefunden, sondern verloren.

Mit den Hirten, die so sanft unsere Gesellschaft regieren, kann der Hirte Jesus nicht konkurrieren. All zu unsanft konfrontiert er mit der Härte der Wirklichkeit, wenn er im Evangelium zum Sonntag sagt: „Wenn einer hinter mir her gehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach…“ (Lk 9,23). Das ‚Kreuz auf sich nehmen‘ heißt nun gerade nicht, die Leiden des Alltags geduldig und angepasst zu ertragen. Dafür wird niemand aufs Kreuz gelegt. Das Kreuz der Ausgrenzung und Diffamierung droht den Unangepassten und Widerständigen – damals wie heute. Heute das Kreuz auf sich zu nehmen, wäre die Weigerung, die Opfer der kapitalistischen Gesellschaft zu verleugnen – von den Arm gemachten über die Flüchtenden bis hin zur bedrohten Schöpfung. Das Interesse, das eigene Selbst, die eigene Haut, die eigene Nation… ohne oder gar gegen die anderen zu retten, wird zum Verrat an den Opfern von Unrecht und Gewalt und zum Verrat an der Schöpfung. Durch Anpassung und Verleugnung der Wirklichkeit aber wird auch das eigene Selbst nicht gerettet, sondern verloren.

Herbert Böttcher, Pastoralreferent i.R., zuerst veröffentlicht in der Rheinzeitung („Fixpunkt“, 23. Juni 2019).